Friedemann Bach
zurückgezogen. Bach war allein mit sich und seinen Gedanken.
Unruhevoll schritt er auf und ab. Die selige Liebeslust jener schnell vorübergerauschten Stunde, in der er Antonie in seinen Armen gehalten hatte, klang noch in ihm nach. Aber schon griff marternde Qual ihn an. Wie, in aller Welt, sollte es möglich werden, aus dem gestohlenen, kurzen Glick ein dauerndes zu machen?! Er: Oberorganist an St. Sophien -- sie: Tochter eines allmächtigen Ministers! Aber war er nicht Johann Sebastians Sohn? Würde man den Namen Bach nicht immer noch mit Ehrfurcht nennen, wenn der eines Brühl schon längst verweht war? Und hatte sein Vater, sein großer Vater, nicht selbst gesagt, er, Friedemann, werde noch größer werden?
Überlegend blieb er am Tisch stehen. Schwankend flackerte, von einem Windzug bewegt, die Flamme der Kerze und streute einen spielenden Schatten über die aufgeschlagene Bibel. Friedemanns Augen wurden davon angezogen.
»Ich hab's«, rief er aus, »ja, das ist's! Ein Werk muß ich schaffen, so gewaltig und bedeutend, daß es alle begeistert, daß es sie einfach erdrückt, daß es selbst den stolzen Brühl zur Achtung zwingt!«
Sein Finger klopfte auf das heilige Buch: »Und hier, diese Stelle, die mir der liebe Gott vielleicht selber aufschlug, sie soll mir den Text liefern, und schreiben werde ich ihn selbst!«
Er zündete ein zweites Licht an, setzte es neben das andere und legte die Bibel zwischen die beiden Kerzen. Es sah aus wie ein Altar.
Und nicht wild, erregt, in fieberhafter Ekstase, sondern ganz ruhig, ernst und andachtsvoll setzte er sich zur Arbeit nieder. Seine Hand schrieb das Thema nieder: »Der Tod des Erlösers. Ein Oratorium.« -- Und weit dehnte sich seine Phantasie, weithin über die Erde, zurück in die Tage der Vergangenheit, die mit Sonnenklarheit in ihm auferstanden. Er versank ins Schauen ...
Er sieht den Heiland stehen vor der palmenumragten Hütte; im Scheidegruß preßt er die Hand Maria Magdalenas an sein Herz. Sein Auge schimmert feucht, seine zitternde Lippe sagt der Armen Lebewohl.
Von allem Liebreiz umflossen, aber gebrochen, tränenleer, ein erschütterndes Bild der Erdenentsagung, steht das Mädchen, und schwere Seufzer ringen sich aus ihrer Brust, Zeugnisse der Liebe und der Schmerzen, die der Morgenwind aufhebt zum Throne des ewigen Vaters. Die Schwester Martha und Lazarus, der wiedererstandene Bruder, sind bei ihr, und Tränen des Mitleids fallen ihnen verstohlen aufs Gewand. Des Menschen Sohn soll alle Menschenschmerzen tragen, soll alle Bitternisse schmecken, so will's sein himmlischer Vater, und auch des Erdenleides Tiefstes, das Weh der Liebe, den Kelch der Entbehrung. Er soll verkünden das neue Reich der Liebe und Brüderschaft im Himmel und auf Erden; von seinem Worte sollen auferstehen der Sklave und der Bedrängte und sich schmücken mit dem Blütenzweige der Freiheit. Vor ihm sollen fallen die unsauberen Tempel mit ihren blutigen Opfern ... Und doch ist er auch Mensch, doch liebt er das blasse Weib, und wenn das Volk jauchzend schreit »Hosianna!«, so sieht er trotz Palmenwedel und Blumen und Freudengesängen das einsame Galgenholz da droben, -- weiß, daß sie alle, die Hoffenden, sich gegen ihn wenden werden in der Stunde der Gefahr; denn er bringt ihnen nicht, was sie wollen, -- er bringt ihnen die Wahrheit. Aber die Wahrheit muß erst untergehen, bevor sie sich neu erheben kann! Sein Prophetenauge sieht, wie die Völker der Zukunft in seinem Namen wallen, wie, in sein Blut gekleidet, die ewige Wahrheit, das Reich der Liebe, durch die Erde schreitet.
Ein Blick der stummen Bitte zum Vater, und er eilt hinweg, besteigt die Eselin und zieht ein in Jerusalem. Des Volkes gärende Menge, der Leviten eifernder Chor wälzt sich vor ihm her; wächst zum riesigen Strome, der sich drohend aufstaut gegen die Römerburg der Antonia, an den Höhen von Zion brandet und wie ein Wetter sich endlich lagert um Salomonis stolzen Bau. Die römische Soldateska hält sich zagend still und erwartet das Feldgeschrei der Empörer. Die Leviten, die Sadduzäer stacheln die Menge, und die Sikkarier halten die Waffen unterm Gewande. Der Herr besteigt des Tempels Stufen und tritt mit den Jüngern hinein, wo aus goldenen Schalen Weihrauch strömt, wo das blutende Opfer verbrennt auf dem Altar. Der Wechsler zählt sein wucherisch Gold; Kauf und Verkauf, List und Trug, Tränen, Fluch, Gemeinheit und Gebet, -- alles zieht empor in wilden Wirbeln des Opferrauches.
Da ist die Stunde
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