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Friedhof der Kuscheltiere

Friedhof der Kuscheltiere

Titel: Friedhof der Kuscheltiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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»Hochwinter« genannt wird. Aber die Zeit vergeht, und die Zeit läßt einen Zustand menschlichen Fühlens in einen anderen übergehen, bis sie einem Regenbogen gleichen. Aus heftigem Kummer wird ein milderer, sanfterer Kummer; aus dem sanften Kummer wird Trauer; aus Trauer endlich wird Erinnerung -- ein Prozeß, der von sechs Monaten bis zu drei Jahren dauern kann und trotzdem als völlig normal gilt. Der Tag von Gages erstem Haarschnitt kam und ging, und als Louis bemerkte, daß das Haar seines Sohnes dunkler nachwuchs, scherzte er darüber und trauerte -- aber nur in seinem Herzen.
    Der Frühling kam, und er blieb eine Weile.

 35
    Louis gelangte zu der Überzeugung, daß der 24. März 1984 der letzte wirklich glückliche Tag seines Lebens war. Die Dinge, die ihnen bevorstanden, die über ihrem Leben hingen wie ein mörderisches Gewicht, lagen noch mehr als sieben Wochen in der Zukunft, aber wenn er über diese sieben Wochen zurückblickte, fand er nichts, das in den gleichen Farben geleuchtet hätte. Er war ziemlich sicher, daß er diesen Tag auch dann sein Leben lang nicht vergessen hätte, wenn jene schrecklichen Dinge nicht passiert wären. Wirklich gute und glückliche Tage waren ohnehin selten. Möglich, daß es selbst unter den günstigsten Umständen im Leben jedes normalen Menschen kaum einen Monat an wirklich glücklichen Tagen gab. Gott in seiner unendlichen Weisheit, so kam es Louis Creed vor, schien wesentlich großzügiger, wenn es um das Zumessen von Qualen ging.
    Jener Tag war ein Samstag, und er verbrachte den Nachmittag zu Hause, um Gage zu hüten, während Rachel und Ellie einkauften. Sie waren mit Jud in seinem klapprigen, alten Kleinlaster gefahren -- nicht nur, weil ihr eigener Kombi nicht in Ordnung war, sondern auch, weil der alte Mann es genoß, mit ihnen zusammenzusein. Rachel hatte Louis gefragt, ob er mit Gage zurechtkäme; natürlich käme er mit ihm zurecht, hatte er geantwortet. Er freute sich, daß sie einmal herauskam; nach einem fast ausschließlich in Ludlow verbrachten Winter sollte sie, wie er fand, jede sich bietende Gelegenheit zum Herauskommen nutzen. Sie hatte ihn zwar ohne Murren und beharrlich durchgestanden, schien ihm aber in letzter Zeit doch ein wenig verwirrt gewesen zu sein.
    Gage wachte gegen zwei aus seinem Mittagsschlaf auf, leicht verdrossen und mißgelaunt. Er hatte entdeckt, wie man sich als Zweijähriger unbeliebt machen kann. Louis unternahm mehrere Versuche, den Jungen aufzuheitern, aber Gage spielte nicht mit. Was die Lage noch unerfreulicher machte, war eine gewaltige Darmentleerung, die nichts an künstlerischer Qualität gewann, als Louis eine blaue Murmel darin entdeckte. Es war eine von Ellies Murmeln. Das Kind hätte daran ersticken können. Die Murmeln mußten verschwinden, beschloß er -- alles, was Gage in die Finger bekam, landete in seinem Mund --, aber dieser Entschluß, so löblich er fraglos war, trug nichts dazu bei, den Jungen bis zur Rückkehr seiner Mutter bei guter Laune zu halten.
    Louis hörte den Vorfrühlingswind, der um das Haus wehte und das Feld von Mrs. Vinton nebenan abwechselnd in Licht und Schatten tauchte, und da fiel ihm plötzlich der Geier ein, den er aus einer Laune heraus vor fünf oder sechs Wochen auf dem Heimweg von der Universität gekauft hatte. Hatte er auch Schnur dazu gekauft? Er hatte es getan, bei Gott!
    »Gage!« sagte er. Gage hatte unter der Couch einen grünen Filzstift gefunden und kritzelte damit in einem von Ellies Lieblingsbüchern herum -- wieder etwas, was das Feuer geschwisterlicher Rivalität anfacht, dachte Louis und grinste. Wenn Ellie wirklich einen Aufstand machte wegen der Kritzeleien, die Gage in Wo die wilden Kerle wohnen hinterlassen hatte, bevor Louis ihm das Buch wegnahm, dann brauchte Louis nur auf den einzigartigen Schatz hinzuweisen, den er in Gages Pampers entdeckt hatte.
    »Was?« Gage reagierte prompt. Er sprach jetzt schon recht gut, und Louis fand, daß der Junge offenbar doch nicht auf den Kopf gefallen war.
    »Wollen wir rausgehen?«
    »Wollen rausgehen!« stimmte Gage aufgeregt zu. »Wollen raus gehen. Wo sind Schuhe, Daddy?«
    Mit welchen Worten und auf welche Weise Gage sich ausdrückte, setzte Louis oft in Erstaunen -- nicht, weil es scharfsinnig war, sondern weil er fand, daß kleine Kinder etwas von Einwanderern an sich hatten, die auf eine zwar unmethodische, aber doch recht liebenswerte Art eine Fremdsprache lernen. Er wußte, daß Kleinkindern alle Laute zur Verfügung

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