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Friedhof der Kuscheltiere

Friedhof der Kuscheltiere

Titel: Friedhof der Kuscheltiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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eine gerade, schwarze Linie, und das Flußtal -- das alles sah der Geier mit seinen blutunterlaufenen Augen hoch in den Lüften. Er sah den Fluß wie ein kühles, graues Stahlband, in dem noch Eisbrocken schwammen; jenseits von ihm sah er Hampden, Newburgh, Winterport mit einem Schiff im Dock; vielleicht sah er die große Papierfabrik in Bucksport unter ihrer weißen Dampfwolke oder sogar die Küste und den Atlantik, der gegen den nackten Fels brandete.
    »Sieh nur, wie er steigt, Gage!«rief Louis lachend.
    Gage beugte sich so weit zurück, daß er fast umfiel. Auf seinem Gesicht lag ein strahlendes Grinsen. Er winkte dem Drachen zu. Die Spannung der Schnur ließ nach, und Louis sagte Gage, er solle seine Hand ausstrecken. Gage tat es, ohne hinzuschauen. Er konnte den Blick nicht von dem Drachen abwenden, der jetzt im Wind schwang und tanzte und seinen Schatten über das Feld jagen ließ.
    Louis wickelte die Schnur zweimal um Gages Hand, und jetzt sah der Junge auf sie herunter, verblüfft über den starken Zug, den sie ausübte.
    »Das!« sagte er.
    »Jetzt läßt du ihn fliegen«, sagte Louis. »Du hast den Bogen raus, kleiner Mann. Es ist dein Drachen.«
    »Gage läßt fliegen«, sagte Gage, als verlangte er nicht von seinem Vater, sondern von sich selbst eine Bestätigung. Er zog versuchsweise an der Schnur; der Drachen nickte am windigen Himmel. Gage zog kräftiger an der Schnur; der Drachen schoß abwärts. Louis und sein Sohn lachten gemeinsam. Gage streckte tastend die freie Hand aus, und Louis ergriff sie. Hand in Hand standen sie mitten auf Mrs. Vintons Feld und blickten hinauf zu dem Geier.
    Es war ein Augenblick mit seinem Sohn, den Louis nie vergaß. Ebenso, wie er als Kind in den Drachen eingegangen und mit ihm aufgestiegen war, ging er jetzt in seinen Sohn ein. Er hatte das Gefühl, als schrumpfte er, bis er in Gages winziges Haus paßte und durch die Fenster herausschaute, die seine Augen waren -- herausschaute in eine Welt, die riesig und hell war, eine Welt, in der Mrs. Vintons Feld fast so groß war wie die Bonneville Salt Flats, in der der Drachen viele Meilen hoch über ihm schwebte, während die Schnur wie etwas Lebendiges in seiner Faust vibrierte, während der Wind ihn umbrauste und sein Haar flattern ließ.
    »Gage läßt fliegen!« rief Gage seinem Vater zu, und Louis legte einen Arm um Gages Schultern und küßte ihn auf die Wange, auf der der Wind eine wilde Rose hatte erblühen lassen.
    »Ich liebe dich, Gage«, sagte er -- sie waren unter sich, und deshalb war es in Ordnung.
    Und Gage, der keine zwei Monate mehr zu leben hatte, lachte hell und freudig. »Dachen fliegt! Dachen fliegt, Daddy!«
     
     
    Als Rachel und Ellie nach Hause kamen, ließen sie den Drachen immer noch fliegen. Sie hatten ihn so hoch steigen lassen, daß fast die ganze Schnur abgelaufen und der Kopf des Geiers nicht mehr zu erkennen war; er war jetzt nur noch eine kleine, schwarze Silhouette am Himmel.
    Louis war froh, die beiden wiederzusehen, und er lachte laut auf, als Ellie die Schnur einen Augenblick losließ, ihr durchs Gras nachjagte und sie gerade noch erwischte, bevor sich das letzte Ende von der rollenden und hüpfenden Spule abgewickelt hatte. Aber die beiden um sich zu haben, änderte auch die Dinge ein wenig, und deshalb war er nicht sonderlich betrübt, als Rachel zwanzig Minuten später sagte, Gage sei jetzt lange genug dem Wind ausgesetzt gewesen. Sie fürchtete, daß er sich erkälten könnte.
    Also wurde der Drachen eingezogen; er kämpfte am Himmel um jeden Meter Schnur, bis er dann endlich aufgab. Louis nahm ihn mit seinen schwarzen Flügeln und seinen vorstehenden, blutunterlaufenen Augen unter den Arm und sperrte ihn wieder in den Lagerraum.  An diesem Abend verspeiste Gage eine riesige Portion Würstchen und Bohnen, und während Rachel ihn in seinen Schlafanzug steckte, nahm Louis Ellie beiseite und sprach ein paar ernste Worte über das Herumliegenlassen von Murmeln. Unter anderen Umständen hätte das Gespräch damit enden können, daß er sie anschrie, denn Ellie konnte sehr hochfahrend -- und sogar beleidigend -- sein, wenn man ihr etwas vorwarf. Gewiß, das war nur ihre Art, Kritik zu verarbeiten, aber es änderte nichts daran, daß Louis in Wut geriet, wenn sie zu dick auftrug oder er besonders müde war. Doch an diesem Abend hielt die gute Laune vom Drachenspiel noch vor, und Ellie gab sich vernünftig. Sie versprach, vorsichtiger zu sein, und ging dann hinunter, um bis halb neun vor

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