Friedhof der Kuscheltiere
stehen, deren der menschliche Sprechapparat fähig ist -- die flüssig rollenden Konsonanten, die Anfängern im Französischunterricht so schwer fallen, die kehligen Grunz- und Schnalzlaute der Leute aus dem australischen Busch, die dicken, abgehackten Konsonanten des Deutschen. Sie verlieren diese Fähigkeit, wenn sie Englisch lernen, und Louis fragte sich jetzt (und nicht zum ersten Mal), ob die Kindheit nicht eher eine Zeit des Vergessens als des Lernens war.
Gages Schuhe fanden sich endlich an -- sie waren gleichfalls unter der Couch. Zu Louis' Glaubenssätzen gehörte auch der, daß in Familien mit kleinen Kindern der Raum unter der Wohnzimmercouch im Laufe der Zeit eine mysteriöse elektromagnetische Kraft entwickelt, die Gegenstände unterschiedlichster Art anzieht -- alles Erdenkliche von Flaschen und Sicherheitsnadeln bis hin zu grünen Filzstiften und alten Exemplaren von Sesamstraße, zwischen deren Seiten Essensreste schimmeln.
Gages Jacke allerdings war nicht unter der Couch -- sie fand sich auf halber Treppe. Am schwersten zu finden war die Baseballkappe, ohne die Gage das Haus nicht verließ, weil sie dort war, wo sie hingehörte -- im Schrank, und das war natürlich der letzte Ort, an dem sie nachsahen.
»Wohin, Daddy?« fragte Gage umgänglich und legte seine Hand in die seines Vaters.
»Wir gehen auf Mrs. Vintons Feld«, sagte er. »Dort lassen wir einen Drachen steigen, kleiner Mann.«
»Drachen?« fragte Gage zweifelnd.
»Es wird dir gefallen«, sagte Louis. »Gleich geht's los.«
Sie waren in der Garage. Louis fand sein Schlüsselbund, öffnete den kleinen Lagerraum und schaltete das Licht ein. Er suchte und fand den Geier, noch in seiner Verpackung mit aufgeheftetem Preisschild. Er hatte ihn Mitte Februar in der größten Kälte gekauft, als sein Herz nach etwas Hoffnung verlangte.
»Das?« fragte Gage. Das war seine Ausdrucksweise für ›Was in aller Welt hast du da, Vater?‹.
»Das ist der Drachen«, sagte Louis und zog ihn aus dem Plastikbeutel. Gage sah interessiert zu, wie sein Vater den Geier entfaltete, bis er seine Flügel aus rund anderthalb Metern zähem Kunststoff breitete. Die vorstehenden Augen starrten sie aus dem kleinen Kopf an, der auf einem dürren, nackten, rosa Hals saß.
»Vogel!« schrie Gage. »Vogel, Daddy! Vogel!«
»Ja, das ist ein Vogel«, pflichtete Louis ihm bei, schob die Stöcke in die entsprechenden Schlaufen an der Rückseite des Drachens und suchte dann nach den hundertfünfzig Metern Schnur, die er zusammen mit dem Drachen gekauft hatte. Dabei blickte er über die Schulter und erklärte Gage noch einmal: »Es wird dir gefallen, kleiner Mann.«
Es gefiel Gage.
Sie trugen den Drachen hinüber auf Mrs. Vintons Feld, und Louis schaffte es beim ersten Versuch, ihn in den böigen Spätmärz-Himmel hinaufzubringen, obwohl er keinen Drachen mehr hatte steigen lassen, seit er -- wie alt war er damals gewesen? Zwölf? Vor neunzehn Jahren? Ein gräßlicher Gedanke.
Mrs. Vinton war eine Frau fast in Juds Alter, aber weitaus gebrechlicher. Sie wohnte in einem roten Ziegelhaus am Rande des Feldes, kam aber nur noch selten heraus. Hinter dem Haus endete das Feld, und die Wälder begannen -- die Wälder, durch die man zuerst zum Tierfriedhof kam und dann zum Begräbnisplatz der Micmac.
»Dachen fliegt!«kreischte Gage.
»Ja, sieh nur, wie er hochgeht!«rief Louis zurück, lachend und aufgeregt. Er gab die Schnur so schnell frei, daß sie heiß wurde und eine dünne Strieme in seine Handfläche brannte. »Sieh ihn dir an, den Geier, Gage! Das ist ein Ding, was?«
»Ding-was!« schrie Gage und lachte hell und fröhlich. Die Sonne segelte hinter einer dicken, grauen Frühlingswolke hervor, die Temperatur schien plötzlich um fünf Grad zu steigen. Sie standen in der hellen, unzuverlässigen Wärme des Märztages, der sich schon als April versuchte, im toten, hohen Gras von Mrs. Vintons Feld; über ihnen stieg der Geier dem Blau entgegen, immer höher hinauf, die Kunststoffflügel straff gegen den stetigen Wind gespannt, noch höher hinauf, und wie einst als Kind hatte Louis das Gefühl, als stiege er selbst empor, als säße er auf dem Drachen und sähe von oben, wie die Welt ihre wirkliche Form annahm, die Form, die Kartographen in ihren Träumen sehen mußten; Mrs. Vintons Feld, weiß und still wie ein Spinnengewebe, jetzt kein Feld mehr, sondern ein großes, an zwei Seiten von Steinmauern gesäumtes Parallelogramm, dann die Straße am unteren Ende,
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