Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
Vom Netzwerk:
einen Platz in der Nähe des Porzellanofens, bestellt Schnaps. Er wird, bildet er sich ein, seit neuestem rascher bedient. Liegt es an dem schwarzen Rock? Einer schwarzen Strenge, die ihn wie eine Mischung aus Priester und Amtsträger erscheinen lässt, jemanden, der eine nicht eindeutige Macht ausübt. Oder liegt es an etwas, was Ziguette Monnard bei ihm zum Vorschein gebracht hat? Eine neu entdeckte Bereitschaft, einem Mann einen Schlüssel an den Hals zu drücken? Gewalt wird respektiert; soviel hat er über die Welt gelernt. Vielleicht ist sie sogar eine der Tugenden, über die der Mann auf dem Stuhl gepredigt hat. Herren, die bis zu den Schuhschnallen in Blut waten, verbeugen sich und vollführen un beau geste voreinander. Tugendhafte Gewalt. Ihre tugendhafte Notwendigkeit. Gewalt als Pflicht. Sie ist sehr wahrscheinlich im Kommen.
    Als er in seine Tasche greift, um den Schnaps zu bezahlen, zieht er statt dessen Ziguettes Ding aus Satin heraus. Der Kellner bedenkt ihn mit einem fast unsichtbaren Kellnergrinsen. Draußen drängt er sich durch eine Familie von Mandolinenspielerinnen, lässt das Satinding auf der Fensterbank von Salon Nr. 7 liegen und kehrt in die Dunkelheit, die plötzliche Stille der Straßen hinter der Börse zurück. Ein bisschen Schnaps hat ihn ernüchtert. Er weiß, was er jetzt gleich tun wird. Als er die Strebepfeiler von Saint-Eustache erreicht, verfällt er in Laufschritt.
     
    Beim Hereinkommen ist er für einen Moment enttäuscht, dass sie weniger unglücklich wirkt, als er es sich vorgestellt hat. Vielmehr wirkt sie überhaupt nicht unglücklich. Sie lächelt ihn gelassen an und hält ihm über dem Kopf von Ragoût, der seinen massigen Körper ordentlich auf ihrem Schoß zusammengerollt hat, ihr Buch hin. Sie zeigt auf ein Wort in der Mitte der Seite.
    »Ich kann es nicht sehen«, sagt er.
    »Sie schauen auch nicht hin«, sagt sie.
    »Können Sie es nicht lesen?« fragt er.
    »›Brechung‹«, sagt sie.
    »Ach so«, sagt er und lacht. »Ja. Das kenne ich. Brechung. Wenn man mit Hilfe einer Linse den Einfallswinkel des Lichts ändert.«
    Er trägt den Kater auf den Flur (das Tier erschauert vor Abscheu, als es abgesetzt wird), dann kommt er ins Zimmer zurück und zieht Stiefel, Rock und Weste aus. Sie sitzen nebeneinander auf dem Bett. Sie leckt zwei Fingerspitzen an, löscht die Kerze. Das Feuer spendet genügend Licht. Sie legen sich hin. Sie küssen einander. Zunächst fühlen die Münder sich kalt füreinander an, dann warm. Sie ist, wenig überraschend, geschickt mit Knöpfen. Er schält sich aus seiner Hose, drückt das Gesicht gegen ihre Brüste, klammert sich an sie. Sanft löst sie sich von ihm, zieht ihr Unterhemd hoch, bis es sich um ihre Hüften bauscht. Als er hinzuschauen wagt, sieht er Flammenlicht auf der Haut ihrer Schenkel. Unter seinem Hemd ist er so hart wie eine Flasche, zu hart. Kaum hat sie ihn berührt, da krampft er auch schon und stößt einen halblauten, erstickten Schrei aus, wie er ihn vielleicht auch in der Nacht von sich gegeben hat, in der Ziguette das Lineal auf seinen Kopf hat herabsausen lassen.
    Es vergeht eine weitere Woche, bis er bei einer unerwarteten Begegnung am Nachmittag, bei der sich keiner von beiden richtig auszieht, endlich in sie eindringt. Sobald er in ihr ist, senkt er die Stirn, bis ihre Köpfe leicht gegeneinanderdrücken. Mit dem Daumen zieht sie die Linie seiner Narbe, den Grat empfindungsloser Haut nach. Von diesem Augenblick an betrachtet er sie in seinem Herzen als seine Frau.

11
     
    AU F DE M FRIEDHO F ist eine deutliche Zunahme der Anzahl von Ratten zu verzeichnen. Ratten, die man sieht. Guillotin ist der Meinung, dass sie dabei sind, den Friedhof zu verlassen. Die Männer legen sich Katzen zu. Jedes Zelt hat mindestens eine, obwohl nicht einmal Lecoeur zu wissen scheint, wo sie sie herhaben. Vielleicht von ihren Samstagabendfrauen, ihren Dirnen. Manchmal meint der Ingenieur, Ragoût unter ihnen zu sehen, wie er in der Dämmerung umherstreift, aber von weitem sieht eine Katze wie die andere aus. Nachts schlagen sie gewaltige Schlachten. Eine Katze wird getötet, doch auch viele Ratten müssen daran glauben, deren Kadaver sich, ganz oder in Stücke gerissen, im höher werdenden Gras finden oder als Trophäen auf den Stufen der Beinhäuser abgelegt werden.
    In der Nachbarschaft des südlichen Beinhauses wird ein neues Armengrab – Nummer vierzehn – geöffnet. Zusätzlich dazu beschließt der Ingenieur, die erste Privatgruft

Weitere Kostenlose Bücher