Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
wir.«
Der Zuschauerraum füllt sich. Es beginnt laut zu werden. Leute rufen einander quer durch den Saal etwas zu, geben mit Hüten und Fächern Signale. Einige der Frauen kreischen wie Papageien. In der ersten Reihe vor der Bühne kommt es zu einem Handgemenge. »Freunde des Autors«, sagt Armand kennerhaft. »Feinde des Autors.«
Die lavendelfabenen Livrierten greifen ein. Ein Mann wird hinausgetragen, er strampelt mit Armen und Beinen wie ein auf dem Rücken liegender Käfer.
»Der Minister ist da«, sagt Jean-Baptiste leise. »In der Loge gegenüber der Bühne.«
»Der mit einem Gesicht wie eine Axt?« fragt Armand.
»Das ist er«, sagt Jean-Baptiste. »Aber starren Sie nicht hin. Ich möchte nicht, dass er mich holen lässt.«
»Du hast ebensoviel Recht, hier zu sein, wie er«, sagt Héloïse.
»Trotzdem«, sagt Jean-Baptiste. »Ich will heute abend nicht an ihn denken.«
Sie lehnen sich auf ihren Plätzen zurück. Hinter dem Vorhang stimmen die Musiker ihre Instrumente. Den anderen Mann in der Loge des Ministers, den jungen Mann im schimmernden Rock, erwähnt der Ingenieur nicht. Der Name Louis Horatio Boyer-Duboisson würde ihnen nichts sagen.
Zuerst gibt es eine kurze, hektische Pantomime, dann eine längere Pause, dann endlich das Stück. Das Publikum sitzt im Licht von fünfhundert Kerzen, verzaubert, unruhig, ein bisschen gelangweilt. Der Ingenieur, Armand, Héloïse und Lisa Saget schlürfen Orangen, nagen an den Knochen kräftig gewürzter Hühnchen, lassen die Knochen unter ihre Plätze fallen. Jean-Baptiste findet das Stück schwer verständlich, zuweilen verwirrend. Wer genau ist Marceline? Warum kann Suzanne Figaro nicht heiraten? Und wer versteckt sich in dem Schrank? Die Lippen an seinem Ohr, erklärt Héloïse es ihm geduldig. Er nickt. Er sieht den Zuschauern zu, sieht ihnen beim Zuschauen zu. Könnte er sie tot, ihrer Federn und Fächer, ihrer Schwerter, Stöcke, Bänder und Juwelen entledigt, nackt ausgezogen und wie Schinken geschichtet, nicht allesamt in einem einzigen Armengrab unterbringen? Er hat den Gedanken; spürt das Verstörende daran; lässt ihn los.
Noch ein Hühnchen wird gebracht, außerdem mehr Wein und Mandeln, die wie parfümiertes Sägemehl schmecken. Der Ingenieur ist beschwipst. Er kniet sich zum Pissen vor den Topf an der Rückwand der Loge, pisst in die kalte Pisse von jemand anders und kehrt auf seinen Platz zurück, um festzustellen, dass Suzanne nun doch Figaro heiraten wird.
»Dann bekommen sie also, was sie gewollt haben?« fragt er, doch seine Frage geht im Lärm des Applauses und einer neuerlichen Rauferei unter. Er beugt sich unauffällig vor, um festzustellen, wie dem Minister das Stück gefallen hat. Der Minister ist aufgestanden. Neben ihm steht Boyer-Duboisson und flüstert ihm etwas ins Ohr. Der Minister lacht. Boyer-Duboisson tritt, ebenfalls lachend, zur Seite. Unter ihnen kämpfen sich die Theaterbesucher durch die Türen wie schaumiges Wasser, das aus einem Spülbecken abläuft. Immer noch lachend, legt sich der Minister eine Hand auf die Brust, wie um sich zu beruhigen, und schaut beiläufig zu der Loge herüber, von der aus Jean-Baptiste zu ihm hinsieht. Nimmt er den Ingenieur wahr? Seinen Ingenieur? Würde er sich überhaupt an sein Gesicht erinnern? Und immer noch kann er nicht aufhören zu lachen. Es ist, als könnte nichts außer dem Tod einer so grenzenlosen Erheiterung ein Ende machen.
Unmöglich, eine Droschke zu finden, sobald sie draußen sind. Sie bummeln durch die kleinen Straßen, fast ohne darauf zu achten, wohin sie gehen, finden sich (gerade als den Frauen die Füße zu schmerzen beginnen) auf der Île de la Cité wieder, essen an einem trotz der späten Stunde geöffneten Stand unterhalb der Mauern der Conciergerie Kutteln, mieten dann ein Boot und lassen sich auf dem schwarzen Tuch des Flusses bis zu den Stufen unter dem Pont Neuf rudern.
Sie stolpern die tückischen Stufen hinauf und trennen sich schließlich in der Rue Saint-Honoré unter Umarmungen und Versprechungen, das Ganze bald – sehr bald! – zu wiederholen.
Im Haus entzündet Jean-Baptiste eine Kerze und steigt, gefolgt von Héloïse – beide gähnen ausgiebig – die Treppe hinauf, um zu Bett zu gehen. Als sie am Wohnzimmer vorbeikommen, geht die Tür auf. Marie kommt heraus. »Ein Mädchen hat nach Ihnen verlangt«, sagt sie.
»Ein Mädchen?« fragt Jean-Baptiste. »Was für ein Mädchen?«
»Ziguette war es jedenfalls nicht«, sagt Marie. Sie stößt
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