Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
auszuräumen. Er stellt einen kleinen Trupp zusammen – Slabbart, Biloo, Block, Everbout – und geht mit den Männern zum westlichen Beinhaus an der Rue de la Lingerie. Beginnen werden sie mit der Familie Flaselle, deren Grabstätte 1610 verschlossen worden ist. Mit Hammer und Meißel brechen sie den Mörtel los, lockern den Schlussstein, treiben dann die lange Stahlstange mit der keilförmigen Spitze in den Spalt und hebeln nach unten, bis der Stein sich verschiebt. Sie lassen eine Leiter hinab; sie reicht gerade bis zum Boden. Die Gruft, so scheint es, hat aristokratische Dimensionen. Jan Biloo steigt als erster hinunter. Während er hinabklettert, beginnt sein Licht zu flackern. Irgendwo am Ende der Leiter geht es aus. Sie rufen; er gibt keine Antwort. Jean-Baptiste und Jan Block steigen hinunter, um ihn zu bergen. Sie halten den Atem an wie Muscheltaucher. Mit tastenden Händen finden sie ihn, hieven sein totes Gewicht die Leiter hinauf, bis Everbout und Slabbart ihn zu fassen bekommen. Er kommt fast sofort wieder zu sich, aber er, der Ingenieur und Jan Block kauern einige Minuten lang spuckend und nach Luft ringend im Gras vor dem Beinhaus.
Später zeichnet Jean-Baptiste in der Küche des Küsters Pläne für eine Atemausrüstung, Masken mit Filtern aus behandelter Lammwolle oder Kohlepulver. Oder etwas Kompletteres, eine geschlossene Haube mit einem Luftrohr und einer Art Klappenventil, das es ermöglicht, ausgeatmete Luft abzuführen. Er versucht, Lecoeur für seine Ideen zu interessieren, doch dieser ist mit seinen Gedanken woanders.
»Monsieur Lecoeur ist erschöpft«, sagt Jeanne, vielleicht etwas schärfer als beabsichtigt. »Alle sind erschöpft.«
Er nickt. Natürlich weiß sie über Héloïse Godard Bescheid; das ganze Viertel weiß Bescheid, doch nur Armand spricht mit ihm darüber. Er faltet die Zeichnung zusammen, steckt sie ein.
Lecoeur lächelt sie beide verträumt an. »Wir Lecoeurs«, beginnt er, »wir Lecoeurs …« Dann zuckt er die Achseln, wendet sich ab und schaut wieder zum Fenster hinaus.
12
JEDE N MORGE N ERWACH T er im zarten Licht der Frühlingsdämmerung aus ruhigem Schlaf neben Héloïse. Manchmal stellt er dabei fest, dass sie ihn ansieht, erwacht zu ihrem Lächeln. Und manchmal ist er der erste, liegt ganz still und mustert die entzückenden Unvollkommenheiten ihres Gesichts, das Geheimnis und Rätsel ihrer geschlossenen Augen. Wenn sie sie dann aufschlägt, hat ihr noch tief in Schlaf und Träumen verwurzelter Blick oft einen Anflug von Traurigkeit, die Héloïse freilich bestreitet, wenn er sie je danach fragt. Mit trockenem Mund liegen sie eine Zeitlang da und sprechen über vertrauliche, belanglose Dinge. Mit trockenen Lippen küssen sie sich ein wenig. Und für ihn ist das Arznei, dieses Geschenk des Morgens, die animalische Wärme unter den Decken, der Vogelgesang auf den Dächern, der neue Herzschlag im Kissen. Er nimmt kaum wahr, wieviel er nicht mehr wahrnimmt, mit wieviel von der Welt außerhalb dieses Zimmers er sich nicht mehr richtig befasst.
Wenn Marie daran denkt, ihnen etwas zu bringen, frühstücken sie zusammen im Zimmer. An den Morgen, an denen sie es vergisst, bleibt Héloïse im Bett, und er isst auf dem Friedhof mit Jeanne, Manetti und Lecoeur. Die Frage, wie sie in den Zeiten seiner Abwesenheit ihre Tage verbringt, ist ihm ein Quell ständiger Faszination. Keine Einzelheit ist zu trivial. Es reicht nicht, dass sie ihm mitteilt, Madame Monnard betrüge beim Tric Trac; er will genau wissen, wie sie es macht. Mit den Würfeln? Den Steinen? Und wenn die beiden Frauen einen Nachmittag lang am Fenster sitzen und sticken, will er wissen, was und welche Muster sie gestickt haben. Rosenknospen? Zickzackmuster? Pfauenräder?
»Worüber redet ihr?«
»Über dich natürlich.«
»Über mich?«
»Nein. Über dich nie.«
»Über Ziguette?«
»Manchmal.«
»Und über Monsieur Monnard?«
»Manchmal auch über ihn. Und über den Brotpreis, ob es vielleicht zum Regnen kommt, ob Wicke oder Kreuzdorn das Beste gegen Verstopfung ist.«
»Du hast sie wieder glücklich gemacht.«
»Nein, Jean. Das habe ich nicht. Du weißt, dass das nicht stimmt.«
Einen Monat nachdem Héloïse in das Haus in der Rue de la Lingerie eingezogen ist, sitzt sie im Bett, trinkt aus einer mit Rosen bemalten Schale eine kleine Portion Kaffee und sagt, dass sie ins Theater gehen möchte. Hat er es ihr nicht versprochen? Er nickt. Er geht zu Armand, um mit ihm darüber zu reden.
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