Friedhofskind (German Edition)
Schilf winken, sie musste auf dem Steg stehen, an dem kleinen Hafen, halb verborgen. Er lief los, erreichte den Steg und fand sie nicht. Da war etwas wie ein blauer Wirbel, eine flüchtige Bewegung am Ende der hölzernen Planken, und dann war da nichts.
Er lief bis dorthin, blieb stehen, drehte sich um sich selbst, mit den Augen das Uferschilf absuchend.
»Hör auf damit!«, rief er. »Spielst du Verstecken mit mir? Hör auf! Komm raus!«
Er merkte zu spät, dass er beobachtet wurde. Alle drei Fischerboote lagen am Steg, und auf zwei von ihnen waren die Männer damit beschäftigt, ihre Netze zu säubern, sie waren schon draußen gewesen an diesem Morgen. Sie hatten beide in dem, was sie taten, innegehalten und starrten ihn an. Sie sagten nichts, starrten nur, und hinter ihren wettergefurchten Stirnen erkannte er, was sie sahen: ein baumlanges Kind in abgerissenen grauen Kleidern, das auf einen Steg hinausrannte und sinnlose Sätze brüllte, das jemanden suchte, der nicht da war; ein Verrückter.
Er steckte die Hände in die Taschen und ging über den Steg zurück, schlug den Weg ein in Richtung des Dorfes. Es war Zeit, zurückzukehren. Winfried wartete auf ihn. Und vielleicht würde er Iris auf dem Friedhof finden, vielleicht hatte sie in ein paar Stunden genug von diesem neuen Spiel und wartete in den Ästen der Eiche auf ihn.
Der Tag war schön, ein perfekter Sommertag; eine Menge Leute waren in ihren Gärten damit beschäftigt, Kraut und Unkraut voneinander zu trennen, Beete zu gießen, Gemüse zu ernten, und die Sonne schien auf das Dorf wie auf ein Bild in einem altmodischen Bilderbuch. Aber die Bilderbuchleute hörten alle auf, zu jäten und zu graben, wenn sie ihn sahen. Sie richteten sich auf, stützten sich auf ihre Harken oder Schaufeln und starrten ihn an wie die Fischer auf dem Steg. Er sah sie miteinander flüstern. Ihre Neugier und auch ihre Angst waren unverhohlener als je zuvor. Einer, der untergetaucht ist und wieder auftaucht, bestätigt alle Vorurteile.
Winfried saß am Küchentisch, als er das dunkle Haus betrat, die Hände auf dem Tischfriedhof, unablässig Vertiefungen, Ritzen und Löcher betastend, und es wirkte, als säße er seit Stunden so oder seit Tagen. Vielleicht seit Wochen.
»Winfried«, sagte Lenz und räusperte sich. »Ich bin wieder da.«
Winfried hob den Kopf und hielt die Hände still. »Wurde Zeit«, sagte er. »Dachte schon, du wärst nach der Beerdigung von der Henning wieder abgetaucht. Dass du da kommst, das wusste ich. Ein Fuhrmann vernachlässigt seine Arbeit nicht.«
»Hm«, sagte Lenz und setzte sich neben ihn an den Tisch. Die Küche war noch dunkler, als er sie in Erinnerung gehabt hatte, sie war auf ihre Art sogar dunkler als die absolute Dunkelheit im Kartoffelkeller der alten Datsche. Dunkelheit, die man sehen kann, ist dunkler als Dunkelheit, die man nicht mehr sehen kann.
»Du bist ganz gut ohne mich klargekommen, was?«, sagte er.
»Nein«, sagte Winfried. »Bleib hier. Hier gehörst du her.«
»Ich bleibe. Aber nicht so wie früher. Falls Siri zurückkommt … sie ist nach Berlin gefahren, wegen der blauen Gläser … falls sie zurückkommt, werde ich anders sein. Zu zweit.«
»Ach was«, sagte Winfried und schnaubte. »Erzähl mir doch nichts. Du? Zu zweit? Und mit dieser Frau?«
»Sei still«, sagte Lenz.
»Du willst mir jetzt nicht erzählen, dass ihr ein Paar seid?« Er sprach das Wort »Paar« auf eine ekelhaft klebrige rosa Art aus wie ein Wort auf einer plüschigen Postkarte. »Für eine Nacht, kann ja sein, dafür reicht es, aber du bist nicht der Mensch für ein Paar, Junge. Und die Nacht würde mich auch wundern. Du bist ein Kind.«
Lenz stand auf. »Sei still.«
»Junge. Du hast doch nicht etwa vor, aus diesem Haus rauszuwachsen und mir über den Kopf? Du wartest, was? Wartest drauf, dass ich sterbe. Ich bin mir da nicht mehr so sicher. Scheint doch noch mehr Leben im alten Fuhrmann zu sein, als ich dachte. Ein Weilchen wirst du ihn noch aushalten müssen, dieses blinde, kaputte Wrack.«
»Es wird Zeit, dass jemand hier sauber macht«, sagte Lenz und sah sich um. »Dass jemand deine Kleider wäscht. Du siehst fürchterlich aus. Aber glaub nicht, dass ich wiedergekommen bin, um hier bei dir rumzusitzen. Ich werde mich kümmern, aber nicht so wie früher.«
»Weiß der Teufel, was du damit meinst«, knurrte Winfried. »Hilf mir hoch. Ich sitze seit gestern Abend an diesem verdammten Tisch.«
»So«, sagte Kaminski. »Bist du also
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