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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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immer andauerte. Vielleicht hatten sie alle recht, Siri würde nicht wiederkommen, aber auch Iris blieb verschwunden. War sie verschwunden, weil er Siri zu nahe gekommen war? War sie da gewesen, in der absoluten Schwärze des Kartoffelkellers, und später, in dem einen Zimmer der Datsche – hatte sie ihnen zugesehen und beschlossen, zu gehen? War dies das Ende seiner Kindheit, über dreißig Jahre aufgeschoben? Er hätte es weiter aufschieben können, auf ewig mit Iris über die Felder laufen; manchmal war er glücklich gewesen, dort auf den Feldern. Aber es war anders gekommen.
    Er balancierte in der Dämmerung alleine auf der Friedhofsmauer entlang, sprang mit ausgebreiteten Armen über die Lücken: Niemand wird von heute auf morgen erwachsen.
    Die Kirche war offen. Der Umbrich musste vergessen haben, sie abzuschließen. Jetzt, wo Frau Henning sich nicht mehr mit ihm darüber stritt, wer von ihnen als Küster das Sagen hatte, war es ihm vielleicht nicht mehr wichtig, sie abzuschließen. Es gab nichts darin zu stehlen als einen Gott, der ohnehin nie da gewesen war.
    Lenz wanderte durch den Mittelgang zwischen den Bänken bis ganz nach vorne zum Altar, drehte sich um und blickte zur Orgelempore hinauf. Beinahe hoffte er trotz allem, Iris von der hölzernen Balustrade aus herunterwinken zu sehen wie damals, als ihr Vater gewollt hatte, dass sie, mangels Klaviers, auf der Orgel übte. Doch dort oben war niemand. Zwischen die groben Schrägbalken, die die Empore von unten hielten, hatten die Spinnen in jahrzehntelanger Kleinstarbeit ein kompliziert ineinander verwobenes Kunstwerk gehängt.
    »Pech-Ton«, sagte er laut. Die beiden Worte hallten in der Kirche wider und schienen sich zu vervielfältigen. Und endlich zwang er sich, den Gedanken zu denken, den er immer von sich fortgeschoben hatte. Er dachte ihn laut.
    »Pech und Ton«, sagte er in die Kirchenstille. »Der Ton von Pech. Der Farbton. Der Farbton von Pech ist schwarz. Siri Pechton. Siri Schwarz.«
    Natürlich, natürlich, natürlich. Er drehte sich um, legte beide Hände auf den Altar und sah hinauf zu dem Fenster in der Wand, das nur aus durchsichtigem Glas bestand. Wenn er die Augen schloss, sah er das alte Fenster vor sich – die kleine Gestalt der sich entfernenden Maria Magdalena im blauen Kleid. So blau wie Iris’ Kleid.
    »Iris Weiß«, sagte er laut. »Und Siri Schwarz.«
    Es war lächerlich. Ein Kinderspiel, ein Rätsel wie in einem Schulheft.
    »Du bist sie«, flüsterte er. »Sie ist du. Aber wie kann das sein? Wie? Lag Iris denn nicht in einem blauen Kleid und schwarzen Schnürschuhen in einem Sarg? Wasserleichen … bei Wasserleichen bleibt der Sargdeckel meist geschlossen … aber sie lag ja nicht lange im Wasser … stimmt meine Erinnerung nicht? Und Winfried? Ist seine Erinnerung auch falsch?«
    Er öffnete die Augen. Das Fenster vor ihm war wieder aus Glas.
    Er hatte Siri nie gesagt, an welchem Tag die Fenster kaputtgegangen waren, alle auf einmal. Es war ein Tag im Mai gewesen, der Tag, an dem der Wind die Blüten des Apfelbaums mitgenommen hatte, weiße Blüten, weiß wie Schnee. Er ging zurück durch den Mittelgang, unter der stillen Orgel hindurch, hinaus, und es war, als könnte er die Blüten am Apfelbaum in der Dämmerung wieder sehen, die Blüten von damals. Es war, als stünde er noch einmal hier und war neun Jahre alt. Dies war der erste Frühlingstag nach einem Winter, in dem er mit niemandem gesprochen hatte.
    Einem Winter, in dem er gewusst hatte – jeden Tag und jede Stunde, jeden Herzschlag und jeden Atemzug lang –, dass Iris tot war, dass sie in dem Grab mit dem verkehrten Schneehuhn lag und nie, nie wieder kommen würde. Der längste Winter seines Lebens.
    Er stand da und sah die Apfelblüten an, die durch die Luft segelten, und auf einmal wurde er so unglaublich wütend, es war kaum zu beschreiben. Und er drehte sich zur Kirche um, sah zu den Fenstern – und hasste sie, jede ihrer Farben. Sie waren schön, und er wollte nicht, dass sie schön waren, die Töne der Orgel waren durch diese Fenster nach draußen gedrungen, und die Orgel würde nie wieder Töne hervorbringen, sie durfte es nicht, weil Iris sie nie wieder spielen konnte.
    Er ballte die Fäuste.
    Und da barsten die Fenster.
    Sie barsten mit einem unvorstellbaren Knall, als hätte ein Flugzeug die Schallmauer durchbrochen, und danach war alles sehr still. Die Erinnerung an die alten Bilder rieselte in winzigen Scherben hinunter auf die Erde, rieselte

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