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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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hinab wie Apfelblüten, wie Schneeflocken, glitzernd und hell. Als die letzten Scherben aus den Rahmen gefallen waren – und es war seltsam, dass sie alle fielen, wo sie doch mit so vielen kleinen schwarzen Stegen verbunden waren –, als die letzten Scherben gefallen waren, drehte Lenz sich zu dem Apfelbaum um.
    Und in seinen blütenlosen, windgeschüttelten Frühjahrszweigen saß Iris in ihrem blauen Kleid.
    Er ging langsam auf den Apfelbaum zu, wie im Traum. Da war niemand auf dem Friedhof außer ihm, es war heller Tag, nichts war unheimlich und alles durchflutet von Licht. Er streckte seine Hände aus, und sie lachte und kletterte vom Apfelbaum, um sie zu nehmen. Ihre eigenen Hände waren warm, und ihr Lachen war warm, und ihre Stimme war warm, und sie sagte: »Ich habe so lange gewartet. Jetzt bleibe ich, weißt du.«
    »Ja«, sagte Lenz.
    »Solange du willst«, sagte Iris. »Im Winter gehe ich vielleicht, ich habe so ein Gefühl, dass dann das Licht nicht reicht. Aber ich komme immer wieder, hörst du? Ich habe doch versprochen, dass ich wiederkomme, als das Auto abfuhr.«
    »Nur hat es nicht geklappt«, sagte er leise, unsicher.
    »Vielleicht ja doch«, sagte Iris. »Ich bin hier, oder? Für dich. Nur für dich.«
    Und dann zog sie ihn mit sich zu der kleinen Hintertür in der Friedhofsmauer, und sie rannten zusammen ins Frühjahr hinein, auf den Sommer zu.
    Er schüttelte den Kopf und blinzelte. Nein, dies war kein heller, lichtdurchfluteter Frühlingstag. Um ihn lag eine Spätsommernacht. In manchen Ecken, zwischen manchen Worten roch es schon ganz entfernt nach einer Ahnung von Herbst. Der Sommer würde zu Ende gehen, nicht gleich, aber irgendwann. Und als er an sich hinabsah, war er auch nicht neun, sondern wieder einundvierzig. Es war nur eine Erinnerung gewesen. Wann würde er sich an die Nacht erinnern, in der Iris, die lebendige Iris, zurückgekommen war? Würde er sich jemals erinnern?
    Wenn man Winfried glaubte, gab es nichts zu erinnern, er hatte in seinem Bett gelegen und geschlafen. Aber er glaubte Winfried nicht.
    Er wusste überhaupt nicht mehr, wem er glaubte.
    »Iris«, sagte er laut. »Habe ich mir dich im blauen Kleid immer nur eingebildet? Warst du nie tot? War das Ganze ein Trick … wozu auch immer? Bist du also anderswo, weit weg, in einem Land voller Veranden und Sonne, erwachsen geworden?«
    Auf einmal packte ihn etwas, er wusste nicht, was, eine merkwürdige Aufregung, es war wie ein Fieber. Sein Kopf schwebte irgendwo über ihm, als er nach Hause ging, seine Schritte waren groß und rasch, er rannte nicht, er verbot sich, zu rennen.
    Der Spaten stand im Hausflur, neben den Jacken und Stiefeln. Winfried stöhnte im Schlaf und wälzte sich oben in seinem Bett hin und her, und Lenz fragte sich, welche Gestalten durch seine Träume wanderten. Nur die Gestalten der Vergangenheit, denn für Winfried gab es keine Zukunft und auch keine Gegenwart mehr. Er hatte zu Ende gelebt, da kam nichts mehr, für das es sich lohnte, aber es gab auch keinen Schalter, den man umlegen konnte, um endgültig den Vorhang fallen zu lassen über dieses Leben. Es wäre beinahe gnädig, einen Schalter zu finden, dachte Lenz. Es wäre einfach, dem Tod ein wenig nachzuhelfen bei diesem alten, kaputten Körper, der da oben im Bett lag. Ein Kissen, eine Decke über einem Gesicht, es ginge ganz schnell, Winfried würde es kaum begreifen.
    Lenz erschrak über seine eigenen Gedanken. Vielleicht war es weniger Gnade, die er spürte, sondern Ungeduld. Nie mehr dieses Wort zu hören: »Junge«.
    Junge. Du wartest, was? Wartest drauf, dass ich sterbe. Ein Weilchen wirst du ihn noch aushalten müssen … Er nahm den Spaten und schloss die Haustür hinter sich.
    Die Äste der Friedhofseiche waren jetzt mit Sternen besetzt wie mit Juwelen.
    Der Mond hing als blass ovaler Halbedelstein zwischen ihnen, weder voll noch halb. Lenz brauchte den Mond nicht, er hätte den Weg vom Tor zu diesem einen Grab auch mit geschlossenen Augen gefunden.
    Einen Augenblick lang stand er davor, sah den Stein an, dessen Inschrift nachts zu geheimnisvollen, unleserlichen Zeichen zerfloss, und dachte ihren Namen. Irisirisirisiris.
    Vergib mir.
    Dann begann er.
    Das Erdreich gab nicht nach, es war durchsetzt von zu vielen Wurzeln; Gras und Blumen klammerten sich hartnäckig fest, und das Schneehuhn sah ihn mit seinen blinden Augen an und begriff nicht, was er tat. Er legte die Schaufel weg, hob es hoch und hielt es einen Moment in seinen Armen

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