Friedhofskind (German Edition)
rupfte er eine Handvoll Gras ab, erdigem Gras neben dem Grab, und wischte sich notdürftig das Gesicht damit sauber, und dann schaufelte er das Grab wieder zu, erschöpft jetzt, trat die Erde fest, passte das Viereck aus Pflanzen und Erdreich wieder ein. Die beiden schmalen weißen Knochen lagen im Gras wie ein Mondzeichen. Er hob sie auf – er fühlte sich ausgelaugt und erschöpft und doch noch immer fiebrig – und rannte los, quer über den Friedhof, ein gehetztes Kind auf der Flucht. Auf der Flucht vor was? Vor sich selbst?
Er rannte die Straße entlang, auf den Hügel zu, auf dem das blaue Haus stand. Annelie, dachte er. Hilf mir. Noch einmal.
Die Nacht war dick und schwer wie das langsam gerinnende Blut in den Gefäßen eines toten Körpers. Der Nachgeschmack von Galle in seinem Mund war bitter, und auf den Knochen spiegelte sich das ödematös weiße Mondlicht.
Die Häuser schliefen. Alle. Oder nicht?
Er schlich lautlos durch den Garten.
Er duckte sich unter Büschen durch.
Er war wie eine Katze, verschmolz mit den Schatten, in der Hand seine seltsame Beute.
Er klopfte an das Glas der Veranda.
Er streckte ihr die Knochen entgegen, als sie die Verandatür öffnete, verschlafen, im Nachthemd, eine Taschenlampe in der zitternden Hand.
Er fand keine erklärenden Worte, nur eine Frage.
»Annelie. Sind das … sind das Knochen von einem Kind? Oder einem Tier? Oder einem Erwachsenen? Ich muss es wissen. Bitte …«
Sie zog ihn ins Haus, und er sah, wie sie sich umblickte, rasch und beinahe gehetzt, als könnte da noch jemand sein, der zusah und lauschte. Als täten sie etwas Verbotenes. Sie schloss die Verandatür hinter ihm und machte Licht. Er hielt die beiden länglichen, dünnen Röhrenknochen hoch, es klebte noch Erde daran.
»Sind das die Knochen eines sechsjährigen Mädchens?«
Sie hob eine Hand zum Mund, ihr Gesicht verfangen zwischen Erstaunen, Entsetzen und Beschwichtigung. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Woher soll ich das wissen?«
»Du weißt mehr als ich. Du bist klüger. Gebildeter. Du bist die Einzige, die ich fragen kann. Guck sie dir an. Guck sie dir genau an!« Er hielt die Knochen so nah an ihr Gesicht, dass sie beinahe ihre Wange berührten. Sie wich zurück, er sah aber, dass sie versuchte, es nicht zu tun.
»Lenz«, sagte sie. »Was ist passiert?«
»Nichts. Alles. Sie liegt nicht in dem Grab, Annelie, sie kann nicht darin liegen … das Grab ist leer … immer leer gewesen …« Er hörte sich selbst beim Stottern zu und konnte nichts dagegen tun, er erbrach die Worte wie seinen Mageninhalt zuvor. »Sie ist nie ertrunken … Annelie, aber wem … wem gehören dann die Knochen … sie sind so dünn, es kann kein Erwachsener sein, ich … warum haben sie denn alle gelogen, und warum ist sie zurückgekommen, noch einmal zurückgekommen … aber sie ist ja wieder fortgegangen … Annelie, und ein drittes Mal wird sie nicht zurückkommen … oder glaubst du, sie kommt? Und Iris ist fort … mein Bild von Iris, die Iris von damals, sie ist fort … Weiß und Schwarz … es war nur ein Wortspiel … und die Namen … Spiegelbilder voneinander … und die Fenster … es ist ein Symbol … und ich habe darüber nachgedacht, Winfried umzubringen, aber es war nicht ernst gemeint, bis ich merkte, was ich dachte. Da war ich mir nicht mehr sicher, ob es nicht doch ernst war … ich weiß nicht, was in mir passiert … und ich habe angefangen, mich zu erinnern … daran, wie die Fenster zersprungen sind, alle zur gleichen Zeit, an dem Tag, an dem Iris in dem blauen Kleid zu mir kam … und Siri und ich … in der Datsche … im Kartoffelkeller, gestern … es war wie ein Grab … sie war so nah, wie in einem Grab zu zweit … und …«
Er verstummte, da waren keine Worte mehr in ihm, nur noch die Galle, die zurückbleibt, wenn man alle Worte ausgespuckt hat.
Er ließ die Hand mit den blanken weißen Knochen sinken und sah Annelie an. Einen Moment lang war es sehr still auf der Veranda. Dann nahm Annelie ihn bei der freien Hand und zog ihn sanft mit sich, aber ihre eigene Hand zitterte stärker dabei als je zuvor. Sie zog ihn die Treppe hinauf, zog ihn ins Bad.
Sein Blick fiel in den Spiegel, und er erschrak. Das Gesicht dort war verschmiert mit Erde und Schlieren von Erbrochenem, die Augen starrten ihm groß und dunkel entgegen, entsetzte Spiegel seiner Verwirrung. Er sah das Kind, das achtjährige Kind, das vielleicht nur in den Dreck gefallen war,
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