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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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wie etwas Lebendiges. Es war groß, schwer und rund, und beinahe glaubte er, das Auf und Ab seines Atmens zu spüren. Er drehte sich um, und da schien die klobige Gestalt der Kirche sich auszudehnen und wieder zu schrumpfen, ganz leise nur, kaum wahrnehmbar, als atmete auch sie. Die Grabsteine, die Mauer, die Eiche, der Apfelbaum – sie alle atmeten. Iris hätte ihn verstanden, wenn er es ihr erzählt hätte.
    Aber wo war Iris, und welche Version von Iris war wo?
    Die atmende Kirche, die Grabsteine, die Mauer, … sie alle warteten stumm darauf, dass er den Spaten wieder aufhob. Dass er tat, was er tun musste, um Gewissheit zu haben.
    Er hatte jetzt ein Viereck aus dem Wurzelwerk gestochen, hob es heraus, nicht ganz so behutsam wie sonst, wenn er mit Blumen und ihren Wurzeln umging, legte es neben sich, grub weiter. Immer rascher, immer tiefer, die schwarze Nachterde gab jetzt nach, krümelig und saftig wie der Sommer selbst, er drang tief in sie ein mit dem Spaten, sie wehrte sich nicht.
    Irisirisirisiris.
    Er sah das Blau ihrer Augen vor sich, während er weitergrub, das Blau ihres Kleides, das Blau der zerborstenen Kirchenfenster, das Blau des Himmels und des Meeres, die Farbe der Weite und der Freiheit. Eine Farbe, die ihm nie gehört hatte. Er warf den Spaten weg, fiel auf die Knie und grub mit bloßen Händen weiter. Da musste etwas sein, irgendetwas, irgendein Überrest, irgendetwas musste doch bleiben, auch nach zweiunddreißig Jahren, er würde etwas finden – oder eben nicht. Wenn nie ein Kind in dem Grab gelegen hatte, konnte er nichts finden. Oder doch?
    Wie viele Gräber hatte es an dieser Stelle schon gegeben, wie viele Leben waren hier über die Jahrhunderte hinweg in die Erde gebettet worden? War es möglich, dass er die Reste eines anderen Kindes fand? Es schien unwahrscheinlich, dass hier vorher gerade ein Kind gelegen hatte … er lag vornübergebeugt, mit den Armen bis zur Schulter in der Erde, ließ sie durch seine Hände rieseln, siebte sie mit seinen Fingern, er arbeitete wie ein Besessener; wie im Rausch.
    Und dann hielt er inne, denn da waren auf einmal Stimmen – ein Flüstern am Friedhofstor.
    »Wetten, dass du dich doch nicht traust? Nachts auf den Friedhof? Huhu, vielleicht kommt gleich ein Gespenst angeschossen …«
    »Ich trau mich wohl. Gespenster gibt es gar nicht. An die glauben nur die Erwachsenen.«
    »Dann geh doch rein.«
    »Tu ich auch, du wirst schon sehen.«
    »Tust du nicht.«
    »Wohl! Komm.«
    Es waren Kinderstimmen, ein Junge und ein Mädchen, das Mädchen schien jünger, vielleicht sechs Jahre alt. Und Lenz begriff: Auch dies war eine Erinnerung. Iris und er mussten vor Unzeiten hier dieses Gespräch geführt haben, und er lächelte still bei dem Gedanken. Er hätte ihre Stimmen nicht erkannt, aber die Zeit und der Mondschein hatten sie wohl verwaschen, und als er genauer hinhören wollte, waren sie verstummt. Beim Tor konnte er niemanden entdecken.
    Er streckte seine Hand noch ein wenig tiefer ins Erdreich, das er gelockert hatte – und dann stieß er auf etwas Hartes. Etwas, das zu groß war für einen Stein, zu … geformt. Er zog es hervor, schüttelte die Erde ab, putzte es mit seinem Ärmel: Es war ohne Zweifel ein Knochen, ein Röhrenknochen von einem Arm oder Bein.
    Aber Lenz konnte nicht sagen, ob dieser Knochen von einem Kind stammte, von einem kleinen Erwachsenen oder von einem Tier. Er hatte genug Knochen gesehen in seinem Leben, aber er hatte sich nie näher mit ihnen beschäftigt. Er fand noch einen Knochen, ebenfalls länglich, dünner. Da musste irgendwo ein Schädel sein, an einem Schädel würde man am ehesten sehen, ob es ein Kind oder ein Erwachsener war, der hier lag … ein paar helle Madenleiber purzelten von irgendwoher in die Grube, die er gegraben hatte, einfache Erdbewohner, und doch schwappte auf einmal eine Welle der Übelkeit über Lenz.
    »Was tue ich hier?«, flüsterte er. »Was? Tue? Ich? Hier?«
    Die beiden schmalen, langen Knochen in seinen Händen schienen sich auf einmal regen zu wollen, schienen in Form zu springen, sich einzupassen in einen Kinderkörper. Diese Knochen waren einmal umgeben gewesen von Fleisch und Blutgefäßen und Haut und Nerven, die Schmerzen fühlten konnte, sie waren vielleicht einmal ein Stück von Iris gewesen.
    Er kniete dort auf der Erde und übergab sich in die Grube, die er geschaffen hatte, so lange, bis sich nichts mehr in seinem Magen befand und nur noch ätzende Galle hochkam. Schließlich

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