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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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folgte ihr ins Schlafzimmer, ohne dass sie sich noch einmal berührten. Niemand sprach vom Sofa im Wohnzimmer. Sie legte sich zwischen ihre aprikotfarbenen Bettdecken, und er rollte sich auf dem Boden zusammen, obwohl er sah, dass sie protestieren wollte. Sie ließ ihre Hand vom Bett hängen und strich ihm durchs Haar, wie sie es all die Jahrzehnte hindurch getan hatte, immer dann, wenn etwas Schlimmes geschehen war. Und er schlief ein, und in seinem Kopf war eine Traurigkeit, die nach Annelies Parfum schmeckte.
    In der stillen Mitte der Traurigkeit saß Siri, mit dem Rücken zu ihm. Der geblümte Mantel umgab ihre mageren Schultern, aber aus irgendeinem Grunde wusste er, dass sie darunter nackt war.
    Er träumte. In seinen Träumen sprach Annelie mit einem Kind. Mit einem Jungen von ungefähr acht Jahren. Unten, vor dem Fenster.
    »Das wirst du nicht tun«, hörte Lenz sie sagen. »Du wirst es niemandem sagen, hörst du? Vergiss, was du gesehen hast. Vergiss, was passiert ist. Vergiss alles. Das ist besser für dich.«
    Er hörte die Stimme des Jungen nicht genau, er erkannte sie nicht. Dann vergaß er, was er gehört hatte, und träumte nicht mehr.

13
    Siri ließ den alten Golf auf der Landkarte nordwärts kriechen.
    Er kroch schon seit Stunden; er musste kriechen, sie hatte den Hänger mit dem Glas hinter sich. Damals hatte sie den Golf gekauft, weil er die Anhängerkupplung besaß. Und er kroch, und er kroch, und er kroch. Vielleicht würde er für immer kriechen, vielleicht würde sie nie über die Brücke auf die Insel zurückfahren, nie das Meer sehen, nie die Abbiegung bei der Bushaltestelle erreichen, wo der Sandweg mit Namen Hauptstraße in ein Dorf voller Duckhäuser führte. Es lag nicht nur am Glas, dass sie so langsam fuhr.
    Solange sie nicht ankam, war alles gut. Solange sie nicht ankam, konnte sie das Happy End des letzten oder vorletzten Kapitels ihrer Geschichte im Kopf behalten, den träumenden Körper zwischen zerwühlten Decken im kahlen Raum der verlassenen Datsche. Ein friedliches, schlafendes Gesicht, das keinem bösen Menschen gehören konnte und auch keinem Verrückten. Wenn sie ankam, würden sich die Dinge vielleicht ändern. Sie war ihm jetzt näher als je zuvor, so nah, dass er irgendwann reden würde. Er würde sich erinnern. Und sie würde die Wahrheit erfahren über den Unfall damals. Es gab eine Chance, dass die Wahrheit gnädig war. Sie versuchte, daran zu glauben. Es war wie ein Münzwurf, Kopf oder Zahl, Glück oder Verderben. Sie wollte die Münze nicht werfen.
    Sie dachte wieder an die Bushaltestelle, die sie nie erreichen würde, wenn sie nur langsam genug fuhr, und dann dachte sie an Aschenputtel und das Schultheater. Und an die älteren Jungen von der Bushaltestelle. Sie sah die kleine Gestalt in dem gelben Kleid vor sich, mitten auf der Landstraße, in dem ehemals gelben zerrissenen, dreckverschmierten Kleid; niemand wusste genau, was die älteren Jungen aus dem Bus genau getan hatten … sie sah den Haselnussstrauß beim Grab von Lotte Fuhrmann vor sich, den Lenz gepflanzt und auf dem sich nie ein Zaubervogel niedergelassen hatte. Und sie hörte sein Schweigen, in der Zeit nach Iris’ Begräbnis, monatelang. Sie sah ihn vor der Kirchentür stehen, erwachsen jetzt, die Hände ausgestreckt, als könnte er sich am Holz der geschlossenen Türflügel festhalten; sie sah Kaminski und seine Freunde auf ihn zutreten, ehe Werter sie aufhielt.
    Warum fuhr der Golf so schnell? Viel zu schnell. Irgendjemand musste aufs Gaspedal getreten haben. Vielleicht Aschenputtel selbst.
    »Ich komme«, flüsterte Siri, »ich komme. Dir ist nicht noch etwas Schreckliches passiert in der Zwischenzeit, oder? Es waren nur zwei Tage … in zwei Tagen kann man sich nicht schon wieder in Schwierigkeiten bringen.«
    Und sie lächelte auf einmal, ein dummes und unpassend strahlendes Lächeln, sie sah es im Rückspiegel, befand es für krank und konnte nichts dagegen tun.
    »Spring in meine Tasche«, flüsterte sie, »und ich rette dich vor allen bösen Dingen in der Welt … haha. Siri Weiß, was glaubst du denn, wer du bist? Deine Manteltaschen sind kein Aufenthaltsort für Kinder.«
    Als sie auf die sandige Straße abbog, hing das Nachmittagslicht schon golden zwischen den Luftmolekülen, und die Spätaugustvögel, die natürlich Junivögel waren, sangen leiser in den Schatten. Sie parkte den Golf auf der Grenze zum Abend. Einen Moment blieb sie hinter dem Steuer sitzen, sah Frau Hartwig in ihrem

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