Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
Kindern passiert so etwas … und er sah den Erwachsenen, der älter war, als er sein sollte. Ein Kind, gefangen in einem alten Körper – es war wie ein Sinnbild des Wahnsinns.
    Annelie drehte den Hahn auf, und er hielt seinen Kopf darunter, nahm den Waschlappen, den sie ihm gab, und rieb die Erde und Flüssigkeit von seiner Haut, rieb und rieb, bis es schmerzte. Schließlich verbarg er sein Gesicht lange in einem weißen Frotteehandtuch, das nach einer vagen Erinnerung an Rosen duftete, und sackte auf dem Fußboden in sich zusammen. Die Knochen lagen vor ihm auf dem freundlich rotorange gestreiften Badezimmerteppich. Er wusste nicht mehr, ob er oder Annelie sie dort hingelegt hatte.
    »Eigentlich«, antwortete er leise, »ist gar nichts passiert. Ich habe nur gegraben, das ist alles. Auf dem Friedhof. Das ist mein Job, oder? Nicht gerade nachts natürlich.«
    »Was wolltest du finden?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Iris. Oder die Abwesenheit von Iris. Vielleicht ist sie gar nicht tot. Ich bin nicht schuld an ihrem Unfall, weil sie gar keinen Unfall hatte. Lebt sie? Ist sie Siri?«
    Annelie wiegte den Kopf, nachdenklich, und es dauerte, bis sie antwortete. »Ich weiß es nicht, mein Junge«, sagte sie schließlich sehr leise.
    »Aber wer … wer liegt dann in dem Grab? Vielleicht bin es ja ich«, sagte er plötzlich. »Ich liege dort. Sie lebt, und ich bin nur eine Erinnerung …« Er lachte, und Annelie zuckte bei dem Geräusch seines Lachens zusammen. War dies schon das Lachen eines Wahnsinnigen? Hatte er keine Kontrolle mehr darüber?
    »Du solltest schlafen«, sagte Annelie, sanft und … vorsichtig. Als wäre es besser, ihn zu beruhigen, weil er sonst imstande wäre, merkwürdige Dinge zu tun. Sie hob die Knochen dennoch auf und kniff die Augen zusammen, konzentriert. »Ich würde sagen, entweder ein Kind oder ein wirklich sehr kleiner Erwachsener«, sagte sie leise. »Oder ein großes Tier. Ein Hund. Es könnten theoretisch die Knochen eines Hundes sein.«
    »Warst du nicht da? Warst du nicht dabei, als sie sie beerdigt haben? Iris? Ich … ich war dabei, hat Winfried gesagt … aber meine Erinnerungen sind nicht die zuverlässigsten … es fehlen Teile …«
    »Siri hat dunkles Haar«, sagte Annelie und fuhr mit einem Finger die glatte Fläche des schmaleren Knochens entlang.
    »Haare … Haare kann man färben … und abschneiden natürlich, dann bemerkt keiner mehr die Locken … ihre Augen haben die richtige Farbe, und ich …«
    »Ja«, sagte Annelie, und es klang auf einmal traurig. »Natürlich tust du das.«
    Er hatte es nicht gesagt, dachte er. Er hatte nicht gesagt: Ich liebe sie. Aus einem Impuls heraus streckte er den Arm aus und berührte ihr Gesicht, drehte, ganz sanft, ihr Kinn zu sich. Er kniete immer noch auf dem Badezimmerfußboden, und sie hatte sich auf den Rand der Wanne gesetzt. Wenn sie hintenüber fiele, mit dem Kopf auf die harte Kante schlug, wäre das das Ende eines sehr langen Lebens.
    Warum dachte er solche Dinge? Die Haut an ihrem Kinn war weich und übersät von winzigen, unsichtbaren, nur spürbaren Härchen. Er sah ihr in die Augen, in denen es immer Sommer gewesen war. Es hätte Herbst darin werden sollen, spätestens jetzt, doch er fand ein Blitzen wie Frühling. Als wäre ihr Blick jünger geworden, als säße hier ein junges Mädchen und sähe ihn an. Sie sah sehr tief in ihn hinein.
    »Du weißt alles über mich«, flüsterte er.
    Da streckte sie die Hand ebenfalls aus, ihre alte und nicht jungmädchenhafte Hand, und berührte sein Gesicht, ganz leicht nur, ein Spiegelbild seiner eigenen Berührung. Draußen erwachte der Wind und schlich durch die Büsche wie Kinderschritte.
    »Lenz, mein Lenz«, wisperte Annelie. »Vielleicht weiß ich.«
    »Aber ich, ich weiß nichts«, begann er, »nichts über dich.«
    »Da gibt es nichts zu wissen«, sagte Annelie. »Ich bin eine alte Frau in einem eigensinnig blauen Haus, die die Gelegenheit verpasst hat, von hier fortzugehen.«
    Da fehlte ein Wort, dachte Lenz. Das Wort lautete »einsam«. Er zog seine Hand zurück und stand auf, und sie stand ebenfalls auf und legte die Knochen in die Schublade der Badezimmerkommode, als wären sie nichts als eine Bürste, ein Kamm, ein Schminkspiegelchen; harmlose, zufällig kinderknochenförmige Gegenstände.
    »Du schläfst hier«, flüsterte Annelie. »Wäre nicht klug, wenn dich jemand so draußen sieht.«
    Er sagte nicht: Ich habe mich doch gewaschen.
    Er nickte. Er

Weitere Kostenlose Bücher