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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Vorgarten ein Beet umgraben, kittelbeschürzt, rückengebeugt, scheinbar unbeteiligt – obwohl sie natürlich genau wusste, dass Siri da war. Sie lauschte und beobachtete mit jeder Faser des pink-türkis geblümten Schürzenstoffs.
    Siri legte die Stirn aufs Lenkrad und atmete tief durch.
    Ich muss jetzt eine gute Ausrede erfinden, dachte sie, um ihn zu treffen. Ich werde einen Spaziergang durchs Dorf machen, ich werde zum Friedhof gehen, um einen Blick auf die Fenster zu werfen … und wenn er dort nicht ist? Ich könnte zu Winfried gehen … Herr Fuhrmann, ich bin gerade aus Berlin zurück, und da dachte ich: Vielleicht haben Sie etwas Brot, das Sie mir leihen könnten? Ich habe nämlich ganz vergessen, etwas fürs Abendessen zu besorgen … und, wenn Lenz da wäre, dachte sie, würde er die schmale Stiege herunterkommen, um mit ihr zu sprechen? Oder würde er oben bleiben, in seiner Kammer, wo vielleicht Iris auf dem Bett saß? Hatte er vielleicht über das, was im Kartoffelkeller der Datsche geschehen war, noch einmal nachgedacht, um es für schlecht zu befinden?
    Sie richtete sich auf, rieb sich die Stirn, die vom harten Lederimitat des Lenkrades schmerzte, und schüttelte den Kopf. Warum musste sie ihn denn heute sehen? Es reichte vollkommen aus, morgen festzustellen, ob er sie sehen wollte oder nicht. Heute Abend hatte sie genug zu tun mit dem Ausladen der blauen Glasplatten.
    Sie stieg aus dem Golf, nickte Frau Hartwig zu, die erstaunlicherweise in genau diesem Moment von ihrem Beet aufsah, und schleppte ihren Rucksack durch den hartwigschen Garten.
    Lenz saß vor der Tür der Kellerwohnung.
    Saß einfach da in der Sonne und blinzelte ihr entgegen.
    Er hatte auf sie gewartet wie ein junger Hund, und sie lächelte, als er aufstand. Sie hätte sich nie Gedanken zu machen brauchen, wie man ihn zufällig treffen könnte.
    Er machte einen Schritt auf sie zu, sah für Sekundenbruchteile zu ihr hinunter und schloss sie in seine Arme, und sie standen lange, lange so und hielten sich fest.
    »Du bist wiedergekommen«, flüsterte er schließlich.
    Sie nickte. Sie wollte etwas sagen wie: »Aber das habe ich dir gesagt« oder irgendetwas anderes, etwas Schlaues, Lustiges, das man gefahrlos sagen konnte, um alles etwas weniger ernst zu machen.
    Sie sagte gar nichts.
    Und schließlich ließen sie sich los, und er half ihr, die blauen Glasplatten hineinzutragen.
    Frau Hartwigs Blicke klebten an jedem ihrer und jedem seiner Schritte wie neugierige feuchtfette Nacktschnecken. Als sie die Platten alle in die Werkstatt hinuntergebracht hatten, behutsam in ihren vielen Lagen Verpackung an die Wand gelehnt, kniete Siri sich davor und riss die Verpackung von der vordersten Platte. Das Blau war ein glänzender schwarzer Abgrund.
    »Sie braucht Licht«, sagte Siri und zog die Platte von dem Stapel der anderen weg, um sie quer in den Raum zu stellen, wo die Reste des Tages durchs Kellerfenster fielen. Da leuchtete das Glas auf wie durch einen geheimen Zauber, es erwachte wie etwas Lebendiges, und die winzigen Luftblasen im Glas schwammen als Schatten über die Wände wie Schwärme von Traumfischen.
    »Himmelsblau«, flüsterte Siri, immer noch am Boden kniend wie in einer seltsamen Andacht. »Meeresblau. Blau ist die durchsichtigste aller Farben. Die Farbe der Ferne.«
    Lenz kniete sich neben sie.
    »Jetzt werden die Fenster also fertig«, sagte er.
    »Es dauert noch …«
    »Es dauert, aber sie werden fertig. Irgendwann. Und dann wirst du weggehen und diesmal nicht mehr wiederkommen. Blau ist die Farbe der Ferne.«
    Da ließ Siri die Glasplatte los, um ihn noch einmal zu umarmen, und die Glasplatte fiel und zerbrach auf dem Betonboden des Werkstattraumes in tausend Splitter; Blau, die zerbrechlichste aller Farben. Lenz erwiderte ihre Umarmung, aber nur für Sekunden, dann löste er sich von ihr und griff in den Scherbenhaufen, erschrocken, als wäre es seine Schuld.
    »Ich wollte nicht …«, begann er. »Warum hast du …? Es sind noch ein paar größere Stücke da …«
    »Es ist nur eine Platte«, sagte Siri leichthin. »Ich habe mehr. Und ich hätte sie sowieso zerschnitten.«
    Als er seine Hand zurückzog, war sie blutig. Das Blau der Ferne war scharf. Quer über seine Handfläche liefen zwei tiefe Schnitte.
    »Es ist nur eine Hand«, sagte Lenz und lachte. »Ich habe zwei.«
    Und dann fuhr er ihr mit der blutigen Hand über die Wange, sie spürte die Feuchtigkeit dort, und es war wie eine Ahnung von etwas, das sie

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