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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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nicht wissen wollte. Sie küssten sich still inmitten der Scherben.
    Irgendwann stand Siri auf und zog ihn mit sich hoch, an der zerschnittenen Hand.
    »Ich will hier nicht bleiben«, sagte sie. »Nicht heute Nacht. Ich kümmere mich morgen um die Scherben. Und um alles andere. Ich arbeite morgen weiter an den Fenstern. Aber ich will nicht hier schlafen. Hier sitzt überall Frau Hartwig in den Wänden, in der Werkstatt und drüben im Schlafzimmer … überall. Können wir zu der alten Datsche gehen?«
    Er zögerte, nur kurz. »Nein. Siri … es geht Winfried nicht gut. Ich wollte nicht gleich damit anfangen … er liegt seit gestern im Bett und fiebert und hustet, er hat sich irgendetwas eingefangen, was man nicht mehr so leicht loswird, wenn man so alt ist wie er und so … kaputt. Ich kann ihn nicht so lange allein lassen. Ich wäre also sowieso nicht lange hiergeblieben.«
    Sie schluckte. »Kann ich … mitkommen? Zu euch? Kann ich bei euch übernachten?« Sie klang, sie merkte es, wie ein Kind.
    »Wenn du die Dunkelheit aushältst. Du kennst das Haus. Ich weiß nicht, ob du dort schlafen möchtest.«
    Sie nahm ihn an der Hand, der feuchten, zerschnittenen, und stieg mit ihm über die Scherben. »Komm.«
    Sie gingen den Weg zwischen den Hecken Hand in Hand entlang, obwohl er beinahe zu schmal dafür war. Die Tür des dunklen Hauses erschien Siri noch niedriger als zuvor, und die Schatten darin begrüßten sie mit ihrem Geruch nach Schimmel in alten Möbeln und Kälte in alten Gedanken.
    Die Nacht senkte sich über einen Vorgarten voller Kaninchen.
    »Sieht aus, als würden sie mir folgen«, sagte Lenz und zuckte die Schultern. »Die alte Datsche ist jetzt vermutlich kaninchenfrei. Aber sie wollen nicht ins Haus. Nicht einmal, wenn ich sie bitte. Sie riechen den Tod.«
    »Den Tod? Wessen …?«
    »Den Tod im Allgemeinen. Den Friedhof auf dem Küchentisch. Der Tod ist überall hier. Er hängt in der Tapete wie eine … eine andere Sorte von Frau Hartwig, verstehst du? Er beobachtet uns.«
    Siri schüttelte sich. Dann trat sie hinter Lenz in das dunkle Haus.
    Die Stufen der alten Holztreppe knarzten unter ihren Füßen. In Winfrieds Schlafzimmer schien sich die Dunkelheit zu konzentrieren. Siri trat neben Lenz an sein Bett, und da lag er und starrte sie mit weit offenen Augen an, ohne sie zu sehen, die Decken bis ans Kinn gezogen. Die Luft im Zimmer war dick vom Geruch nach Urin, Zigaretten und Hustensaft, Staub und Mottenkugeln.
    »Schläft er?«, flüsterte Siri.
    »Nein«, knurrte Winfried. »Er schläft nicht. Wie soll einer schlafen, in diesen Zeiten? Unruhige Zeiten zwischen den Häusern … ihr denkt, ich bin blind, aber ich sehe ohne Augen mehr als ihr. Ich höre es im Dorf rumoren … es kocht, kocht unter der Oberfläche … brodelt …« Er versuchte, sich im Bett aufzusetzen, doch es gelang ihm nicht, und er ließ sich zurückfallen. Lenz half ihm nicht.
    »Ist sie also wieder da, die kleine Iris«, flüsterte Winfried und streckte einen Arm aus, der Siri nicht erreichte. »Steht hier an meinem Bett und ist wiedergekommen … sind sie letztlich ohne dich da rübergefahren nach Afrika, was …«
    »Ich bin Siri«, sagte Siri. »Sie verwechseln mich.«
    »Sie kommen ja alle irgendwann wieder«, sagte Winfried, »der Junge hat was Spezielles, erst vertreibt er sie, und dann holt er sie zurück, so ist das, sie kommen wieder, sie können es nicht lassen … Lotte, Lotte ist auch wiedergekommen, aber zu spät … und ihr, ihr denkt, ich schlafe? Hat schon zu viel verschlafen, der alte Fuhrmann, jetzt bleibt er wach, bis es zu Ende geht! Aber lang ist es nicht mehr hin, lang nicht … sie sammeln sich da draußen, die Schatten, sie kommen, pass nur auf, mein Junge, sie stehen fast vor der Tür.«
    »Er redet wirr«, sagte Lenz leise. »Seit heute Morgen.«
    Siri trat einen Schritt vor und legte Winfried eine Hand auf die Stirn, auf der sein schütteres Haar im Fieberschweiß klebte. Er glühte.
    »Hast du ihm irgendwas gegeben? Gegen das Fieber?«
    »Ich habe es versucht. Er weigert sich.«
    »Weigert sich, weigert sich!«, knurrte Winfried und hustete. »Zeit wird es, sich zu weigern! Alle wollen ständig was von dir, atmen sollst du und essen und trinken und rumlaufen und womöglich noch lachen. Singen und tanzen! Ha! Aber jetzt weigert er sich, der alte Fuhrmann, jetzt hat er genug!«
    Und dann streckte er seinen Arm noch einmal aus, sehr plötzlich jetzt, und packte Siri. Seine mageren

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