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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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dämmerig, um überhaupt Blicke deuten zu können.
    Sie verabschiedeten sich ein wenig steif, ein wenig förmlich.
    »Lena wartet«, sagte der Direktor.
    Und sie wartete, sie sahen sie am Fenster stehen, im Licht, das Baby im Arm.
    »Diese drei«, sagte Siri leise. »Wenn sie hier sind, außerhalb ihrer normalen Stadtwelt, sind sie glücklich zusammen. Auf eine so absolute Weise. Ich frage mich, ob ich … ob wir … irgendwann auf diese Weise glücklich sein können.«
    In der winzigen Küche der Datsche kochte er Tee. »Wir müssen die nassen Kleider loswerden«, sagte Lenz. Sie nickte. »Wir scheinen immer mit nassen Kleidern zu enden, egal, was wir tun.«
    Sie streiften die Kleider ab und tranken ihren Tee in der Küche, wobei Kleidung ohnehin nicht notwendig war. Er hatte ihre Frage nach dem Glück nicht beantwortet.
    Sie hatten wenig gesprochen, seit sie gesagt hatte: Du weißt es ja längst.
    Er hatte es nicht gewusst. Er sagte sich jetzt, dass er dumm gewesen war, aber er hatte es nicht wissen wollen, er hatte glauben wollen, dass sie Iris war und dass er Iris nie … dass er nie schuld an Iris’ Tod gewesen war, weil Iris nie gestorben war.
    Er sah Siri an, wie sie neben ihm stand, nackt, eine Tasse Tee in der Hand, an der sie sich wärmte. Sie war nicht auf die Art nackt, die bedeutet: Sieh mich an, ich bin schön. Oder auf die Art, die bedeutet: Es ist ja einerlei, wir sind uns vertraut. Oder auf die Art, die bedeutet: Wenn der Tee getrunken ist, haben wir anderes vor. Ihre Nacktheit war eine besiegte, gleichgültige. Es gab nichts mehr zu bewahren, nichts mehr zu schützen. Ihre Nacktheit sprach zu ihm, sie wisperte: Ich bin nicht schön, und ich bin nicht sie, bin nicht Iris, nicht einmal heimlich, jetzt weißt du es. Der geblümte Mantel lag über die Anrichte gebreitet, um zu trocknen. Er war griffbereit, aber er schützte sie nicht mehr. Es gab nichts mehr zu schützen. Sie war nackt wie ein neugeborenes, hilfloses Wesen, ausgeliefert, unbeholfen.
    Eine Gänsehaut bedeckte ihren Körper, als würden ihr wirklich Federn wachsen, und er wünschte, es könnte geschehen, er wünschte, sie könnte davonfliegen und frei sein. Frei von Erwartungen.
    Sie sah ihn nicht an, sie sah die Teetasse an.
    Und mit einem Mal merkte er, dass sie jünger geworden war. In diesem Moment war sie jünger als er. Er war nicht mehr das Kind, sie nicht mehr die Erwachsene, alles hatte sich umgekehrt.
    »Siri?«
    Sie setzte sich auf die Anrichte, zog die Beine an, stellte die Teetasse auf ihre Knie. Eine unmögliche und unbequeme Haltung, die doch noch einen Rest von Selbstschutz enthielt. Schutz vor der Kälte.
    »Hm?«
    »Wir müssen jetzt reden … irgendwie … sonst erfrieren wir. Verstehst du? Erzähl … erzähl mir. Vom Ersatzkind. Und, warum du das hier … warum du das gemacht hast. Warum bist du hergekommen und hast einen anderen Nachnamen benutzt und hast keinem gesagt, wer du bist?«
    »Ich wäre doch wieder nur ein Schatten gewesen«, sagte sie zu ihrer Teetasse. »Ein Schatten, weiter nichts. Die Schwester von Iris, die alle geliebt haben. Ein Ding ohne Namen, nur mit einer Funktion: Schwester. Dann schon lieber ganz jemand anderer sein. Ich meine, allein diese Idee unserer Eltern. Iris und Siri. Ich bitte dich. Lächerlich. Ich war immer nur ein Lückenfüller. Sie haben gehofft, sie könnten vergessen. Sie haben gehofft, es wäre mit Kindern wie mit … Kleidungsstücken … man könnte sie einfach nachkaufen … es ging natürlich schief. Mir ihren Namen zu geben, rückwärts, war viel zu symbolisch. Ich war in allem und immer das Gegenteil von ihr. Ich war nicht grazil, ich wurde mit dieser Schwäche in meinen Beinen geboren … ich war nicht selbstsicher und lustig, ich war das schüchterne, unbeholfene, magere Ding, das überall am Rand stand … und es war nicht leichter dadurch, dass wir in Angola waren. Meine Mutter hat die Tabletten an Iris’ zehntem Todestag geschluckt. Weil ich Iris nie ersetzt hatte. Ihr Tod war nichts als ein Vorwurf. Ich habe sie gehasst dafür. Meinen Vater konnte ich nie hassen, ich wollte ihm immer gefallen, verstehst du, ihn irgendwie beeindrucken … er war ja der einzige Mensch, den ich hatte … ich fürchte, ich will ihn immer noch beeindrucken. Ich wollte Iris hassen. Aber es ist mir nicht gelungen. Sie konnte nichts dafür. Und dann habe ich den Namen des Dorfes erfahren, es ist gar nicht so lange her, und die Ausschreibung für die Fenster gesehen. Ich war

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