Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
nicht stoppen. »Du bist wirklich nicht sie«, flüsterte er. »Sie ist tot, ja? Sie war immer tot. Ich habe so gehofft, dass es nicht so ist … dass alles ein großes Rätsel ist, ein großes Missverständnis … dass sie nur wollten, wir sollten glauben, sie wäre tot …«
    »Lenz«, flüsterte Siri. »Lenz, Lenz.«
    Sie hielt ihn lange im Arm, sie war so viel jünger als er und schien jetzt wieder älter, und er ertrank in seinen Tränen. »Ich weiß nicht, was ich getan habe«, wisperte er. »Ich weiß es immer noch nicht, ich werde es vielleicht nie wissen, aber sie haben alle recht. Es war meine Schuld.«
    Als er wieder klar sehen konnte, hatte die Dämmerung alle Farben geschluckt. Nur das Blau von Siris Augen war noch da, ganz nah. Das Blau von Iris’ Augen.
    Sie hielt seine Hände, sie zitterte mit ihm in der Abendkälte.
    Das Boot war noch immer eine Insel, ihre Insel.
    »Du weißt es ja längst«, flüsterte Siri. »Oder nicht? Iris wäre … wenn wir uns gekannt hätten … sie wäre meine Schwester gewesen. Sie haben immer alle gehofft, dass ich werden würde wie sie. So wunderbar. So schön. So selbstsicher, so unbeschwert. So … alles. Ich habe sie enttäuscht. Ich habe ihre Erwartungen nie erfüllt. Ich sollte das Ersatzkind sein. Aber das hat nicht funktioniert.«

14
    Es war beinahe dunkel, als sie das Ruderboot am Steg festmachten. Es war beinahe dunkel, aber auf Aljoschas Fischerboot leuchtete eine Lampe.
    Lenz erschrak, als er es sah. Aljoscha war tot. Ertrunken. Begraben. Er hatte mit ihm gesprochen, seit er unter der Erde war, aber Aljoscha hatte, wie es sich für Tote gehörte, nie geantwortet. Er konnte sie nicht rufen. Er konnte sie nicht sehen. Nicht die, die ihm nicht gehörten. Als er die Lampe an Deck des Fischerkahns flackern sah, fragte er sich, ob das Dorf recht hatte. Ob sie ihm doch folgte, diese Armee aus Schatten, ob Aljoscha jetzt an der Reling auftauchen und ihn zu sich herüberwinken würde und was er ihm zu sagen hatte.
    Er wusste es nicht. Er wusste nicht, was Aljoscha Siri hatte sagen wollen, ehe er ertrunken war. Das ganze Dorf hatte darüber spekuliert, aber Lenz wusste es nicht.
    Er streckte die Hand aus und zog Siri zu sich auf den Steg. Siri, nicht Iris. Es war schwer zu begreifen, dass sie nicht ein und dieselbe waren. Und es war, als wäre sie einen Schritt von ihm abgerückt, seitdem er es wusste.
    »Da drüben«, flüsterte er. »Jemand ist auf dem Boot …«
    Das Licht bewegte sich. Es war nicht Aljoscha. Es war der Direktor.
    »Ich habe gewartet«, sagte er. »Sie waren lange weg.«
    »Ja, es … es war ein so schöner, sonniger Tag«, sagte Siri.
    Der Direktor musterte sie. »Sie sind klatschnass. Was ist passiert?«
    »Warum haben Sie hier gewartet?«, fragte Siri. »An Bord von Aljoschas Boot?«
    Der Direktor zuckte die Schultern. »Aljoscha hat mich ab und zu morgens mit zum Fischen rausgenommen. Manchmal komme ich an Bord, um mich zu erinnern. An die Morgen ganz allein mit ihm da draußen. Wir haben nie geredet. Kein Wort. Das war gut.«
    »Haben Sie gesehen, wie er die Fische getötet hat?«, fragte Siri, und Lenz hörte, wie wenig sie Aljoscha gemocht hatte. Der Direktor zuckte wieder die Schultern.
    »Die Leute hier sind nicht empfindsam, wenn es um Fische geht. Empfindsamkeit gegenüber Fischen kann man sich vielleicht nur in der Großstadt leisten.«
    Sie gingen gemeinsam den Steg entlang, und da war etwas Seltsames im Blick des Direktors, als er Lenz von der Seite ansah. Etwas, das am Morgen noch nicht da gewesen war. Es war wie ein Riss, durch den etwas hereingesickert war. Das Misstrauen, dachte Lenz. Die Dunkelheit und das Misstrauen des Dorfes hatten einen Weg in den Blick dieses Mannes gefunden, der doch auf keine Weise zum Dorf gehörte. Als hätte sich der Direktor – aber wie konnte das sein? –, als hätte er sich da draußen mit ihm zusammen erinnert. Als hätte er gesehen, wie Lenz unter das umgekippte Boot getaucht war, wie er versucht hatte, Iris herauszuziehen, wie er gewusst hatte, dass er es nicht schaffen würde. Aus einem unheimlichen und unbekannten Grund. Wegen einer noch nicht näher bezeichneten Tatsache, die er selbst verschuldet hatte.
    Aber natürlich war es nur seine eigene Erinnerung gewesen, die ihn da draußen im Wasser eingeholt hatte. Niemand anderer konnte sie sehen, Erinnerungen waren kein Film, den man anderen Leuten zeigen konnte. Er bildete sich das Misstrauen des Direktors ein, es war auch zu

Weitere Kostenlose Bücher