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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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neugierig, nur neugierig, das war alles.«
    Sie sah ihn plötzlich an, es war bereits dunkel, er nahm ihren weißen Körper nur schemenhaft wahr.
    »Und jetzt?«, wisperte sie. »Was ist denn jetzt mit uns?«
    Er nahm ihr die Tasse aus den Händen und nahm diese Hände in seine, wo sie winzig und verloren wirkten. »Wie meinst du das – mit uns?«
    »Das meine ich, wie ich es sage. Du wolltest, dass ich Iris war, wie alle anderen. Und ich bin es nicht, und das bedeutet ein Ende, oder nicht?«
    »Ja«, sagte er. »Ja.«
    Und er begriff in diesem Moment, dass es jetzt an ihm war, jemanden zu schützen, der verletzlicher war als er. Er hatte gehofft, sie wäre Iris. Ja. Und? Und sie war es nicht. Und es war völlig gleichgültig.
    »Ein Ende«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, »des Rätselratens.«
    Dann zog er sie an sich, was schwierig war, weil sie noch immer auf der Kommode saß, und umarmte sie, obwohl sie noch immer die Knie angezogen hatte, er umarmte ein kaltes, mageres Bündel aus Abwehr. Er umarmte Siri, nicht Iris. Sie war eine andere Person. Etwas Eigenes.
    »Du bist du, und das reicht«, flüsterte er. »Und ich bin ich, verstehst du? Ich bin nicht … dein Vater. Du bist kein Ersatz, ich kann nichts für diese ganze Ersatzgeschichte. Ich kann mit der echten Iris reden, wenn ich will. Aber das warst du, die Winfried mit mir durch die Kirche geschleift hat, als keiner helfen wollte. Das warst du, die im Kartoffelkeller mit mir … und die im Regen zu der alten Datsche kam … das warst immer du.«
    Da erwiderte sie seine Umarmung, sehr zögerlich, und beinahe fiel sie dabei von der Anrichte.
    »Ich liebe dich«, flüsterte er.
    »Gott, ist das kitschig«, flüsterte Siri. »Bist du sicher, dass es stimmt?«
    »Sicher«, sagte er, »ist man nie.«
    Und dann knarrte die Außentür der Datsche. Sie sahen sich an. Sie sahen an sich hinab. Sie waren noch immer nicht angezogener als zuvor. Die nassen Kleider lagen in dem leeren Raum, und dort gab es auch trockene, aber es hätte zu lange gedauert, sie zu holen. Es war Siri, die die Klappe zum Kartoffelkeller öffnete. Sekunden später saßen sie in der schimmeligen Dunkelheit des winzigen Kellerraums, die Köpfe eingezogen, ganz dicht beieinander wie junge Füchse in einer Höhle.
    »Der Mantel«, flüsterte Siri. »Der Mantel ist noch da oben.«
    Über ihnen fielen Schritte in die Nacht. Langsame, zögernde, vielleicht suchende Schritte. Sie atmeten lautlos in ihrem Versteck. Und dann sprach der Besitzer der Schritte, er sprach mit sich selbst, und Siri zuckte neben Lenz zusammen, als hätte sie einen Stromschlag bekommen.
    »Sie hatten also recht«, sagte der über ihnen. »Sie hatten recht im Dorf. Wenn der Mantel hier ist, ist sie auch hier. Sie hatten recht. Hätte nie gedacht, dass sie recht haben mit irgendetwas. Sieht ja so aus, jetzt, als hätten sie mit vielen Dingen recht. Gott. Wo kommen all diese Kaninchen her? Warum haben sie die Datsche nie abgerissen? Wüsste nicht mal, wem sie jetzt gehört. Gehört sie mir? Ich seh dich noch, hier, ich sehe dich in diesen Räumen … ich sehe dich mit deiner Mutter am Fenster sitzen … in dem gleichen blauen Kleid, in dem wir dich beerdigt haben …«
    Lenz wusste natürlich, wem die Stimme gehörte. Er hatte sie das letzte Mal vor zweiunddreißig Jahren gehört. Sie war älter geworden, brüchiger, weniger selbstsicher.
    Er spürte Siri neben sich, und er suchte nach ihrer Hand und drückte sie. Ihr Vater war zurückgekommen, zum ersten Mal nach so langer Zeit betrat er die winzige Küche – dort über ihnen, und die Person, zu der er sprach, war nicht Siri. Es war, noch immer, Iris. Er sprach nur in Gedanken zu ihr. Sie war nicht da, er wusste es.
    »Sie sagen, im Dorf, deine Schwester wäre hier«, fuhr er fort. »Sie sagen, sie lebt mit ihm hier. Mit … ich kann diesen Namen nicht aussprechen … mit deinem Mörder, Iris. Ich bin gekommen, um sie zurückzuholen. Sie hat mir gesagt, sie ist hier, um Dinge herauszufinden, und dass es vielleicht gefährlich ist, Dinge herauszufinden. Und jetzt komme ich her, und sie sagen mir, dass sie mit ihm … was hat der Mann an sich, dass er meinen Töchtern so den Kopf verdreht? Ich werde …«
    Aber ehe er den Satz beenden konnte, entfernten sich die Schritte wieder in Richtung des kahlen Wohnraums, die Stimme verschwamm. Und dann rief sie, plötzlich, sehr laut, sich beinahe überschlagend: »Hallo? Siri? Bist du irgendwo hier? Wenn du mich

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