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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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gehen, die Schatten und den Wahnsinn verlassen, der hier in jedem Detail wohnte, nicht nur in Lenz Fuhrmanns Kopf – den Wahnsinn der Kuchenrezepte und der weißen Tauben, den Wahnsinn der ewig am Ort Bleibenden, Eingesperrten, sich selbst eingesperrt Habenden, den Wahnsinn der lauschenden Wände und der kalten Kirchensteine und der schwarzen Kartoffelerde, Heimaterde, Friedhofserde.
    Sie schüttelte keinem die Hand, sie sahen sie nicht gehen, zu beschäftigt waren sie mit dem Bericht der Kinder. Das Friedhofstor schloss sich nahezu lautlos hinter ihr.
    Ehe sie in ihr Auto stieg, warf sie einen letzten Blick zurück. Sie sah das Blau des Meeres in der Ferne hinter dem Wellenland blitzen, aber es war schon dunkel, schon beinahe schwarz und voller giftiger Schaumkronen, der Sturm kam zurück, Frau Hartwig hatte recht.
    Sie fuhr an, vorsichtig, sie hatte immer noch den Hänger am Auto, mit den Resten des blauen Glases. Im Handschuhfach war keine Schokolade, weder schwarze noch weiße.
    Sie brauchte keine Schokolade mehr, um das Leben auszuhalten, weil sie wusste, dass Schokolade nichts nützte.
    Die geduckten Häuser blieben im Rückspiegel zurück, auf immer.
    In ihrer Manteltasche lag noch immer, klein und schwer und unbenutzt, die Waffe.
    Das Dorf, dachte Siri, würde sich selbst um seinen Mörder kümmern.
    †   †   †
    »Wetten«, sagte der Junge. »Wetten, du traust dich nicht …«
    Er stand am Fenster und sah hinaus.
    Für eine goldene Stunde waren sie der Mittelpunkt des Dorfes gewesen, seine kleine Schwester und er – der Mittelpunkt im Leben ihrer Eltern und aller anderen. Eine goldene Stunde des Erzählens und Ausschmückens und Dazuerfindens. Aber jetzt kam der Sturm zurück, und die Erwachsenen waren damit beschäftigt, Dinge draußen im Garten und am Haus festzuzurren und Fenster zu sichern und was-auch-immer. Sie hatten die Kinder schon halb wieder vergessen, und es würde sich erst nach dem Sturm lohnen, sie an die Geschichte vom Friedhofsmörder zu erinnern. Überhaupt, ein Sturm! Schon wieder ein Sturm! Als hätte der letzte nicht genug Aufmerksamkeit bekommen! Himmel, es war Herbst! Da musste man wohl mit Stürmen rechnen.
    Stürme begannen den Jungen zu langweilen. Er musste etwas Neues finden, etwas wirklich Gutes … wie damals die Wette mit dem Friedhof, nachts, das war gut gewesen, viel besser, als er gedacht hatte. Er brauchte etwas Gefährliches, etwas, das sich lohnte – etwas, das ihren Vater auf den Plan rief. Am besten eine Sache, bei der er sie retten musste, und vielleicht würde er versprechen, nie wieder fortzugehen. Vermutlich nicht, aber auf einen Versuch kam es an.
    »Wetten«, begann er noch einmal, »du traust dich nicht, bei Sturm auf den Steg am Hafen rauszugehen?«
    Das Mädchen schüttelte sich. »Warum sollte ich das tun?«
    »Natürlich tust du es nicht«, sagte er. »Weil du ein Angsthase bist. Amy ist ein Angsthase! Amy ist ein Angsthase!«
    »Bin ich nicht«, sagte sie und zog trotzig die Nase hoch.
    »Bist du doch!«
    »Nicht!«
    »Doch!«
    Sie zogen sich an, ohne dass die Erwachsenen etwas davon bemerkten, die Erwachsenen waren irgendwo mit sich selbst oder dem aufmerksamkeitsheischenden Sturm beschäftigt. Mit ihren eigenen Fenstergriffen und ihren eigenen Schuppentüren und ihrer eigenen Zukunft. Er hörte seinen Vater irgendwo etwas schreien, vielleicht, weil der Wind so laut heulte, beinahe wie ein Mensch.
    Er öffnete die Vordertür und schloss sie hinter seiner Schwester wieder.
    Der Sturm griff nach ihnen wie nach zwei Federn und drohte sie davonzutragen, aber sie duckten sich, wild entschlossen in ihren Gummistiefeln, und da sah der Sturm ein, dass sie starke Kinder waren, selbstständige und selbstbewusste Kinder, und er beschloss, in ihre Richtung zu blasen. Er nahm sie mit sich und trug sie den Weg entlang, oder er trug sie fast, ihre Sohlen berührten den Sandweg gerade noch.
    »Wir werden schneller am Steg sein als irgendwann!«, rief der Junge.
    Das Mädchen verstand ihn nicht, es zeigte nur auf ihre Ohren und zuckte die Schultern. Sie juchzten im Sturm zusammen und hörten einander nicht, sie brauchten vielleicht doch keine Erwachsenen, um im Mittelpunkt zu stehen – sie befanden sich im Mittelpunkt des Sturms, und das war viel besser.
    Am Steg war das Wasser verschwunden, der Wind hatte es hinaus ins Meer gedrückt.
    »Wetten, du traust dich nicht, durch den Schlick zu gehen?«, schrie der Junge. »Bis dahin, wo das Wasser

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