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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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ist?«
    »Waaas?«, schrie das Mädchen.
    Er ging voraus, und sie verstand, und sie fanden das Wasser da draußen wieder, wohin es geflohen war, und lachten mit rotkalten Gesichtern. Sie brauchten die Erwachsenen nicht, die sich nur um sich selbst kümmerten, nein. Da riss der Sturm dem Mädchen den Schal vom Hals und wirbelte ihn mit sich hinaus aufs Wasser, hinaus auf die gischtsabbernden Wellen, und Amy stand starr vor Schreck. Den Schal zu verlieren war keine gute Idee. Sie sah das enttäuschte Gesicht ihrer Mutter vor sich. Sie würde schimpfen, sicher würde sie schimpfen. Der Schal war fast neu.
    Sie würde nur eben ins Wasser waten, dachte Amy, und ihn holen. Aber der Sturm nahm den Schal weiter und weiter mit, und das Wasser reichte ihr jetzt bis zu den Knien, ihre Hose war nass, auch darüber würde ihre Mutter schimpfen, sie musste jetzt wenigstens den Schal einholen, sie streckte die Arme aus und rannte, rannte, rannte ins Wasser hinein –
    Der Junge blieb hinter ihr zurück.
    »Nein!«, rief er, etwas lahm, weil er wusste, dass sie ihn sowieso nicht hörte. »Amy! Nicht! Komm zurück!«
    Er sah, wie die Welle kam. Er sah, wie sie von den Füßen gerissen wurde und fiel, die Arme noch immer nach dem unerreichbaren Schal ausgestreckt. Er sah ihren Kopf auf den Wellen und sah, wie die Strömung des Wassers sie mit sich hinaustrug, hinaus, hinaus, hinaus, unerreichbar, unwiederbringlich wie den Schal.
    Er ging langsam rückwärts, zurück ans Ufer. In ihm breitete sich ein brennendes, schmerzendes, quälendes schlechtes Gewissen aus, und er erstickte es, indem er sich umdrehte und sich gegen den Sturm zurückkämpfte. Er wäre gerannt, wenn er gekonnt hätte, aber der Wind war zu stark.
    Dennoch – vielleicht, dachte der Junge, würde er es schaffen. Er würde zu Hause ankommen, ohne dass sie sein Fehlen überhaupt bemerkt hatten. Er würde sich trockene Kleider anziehen und wäre nie fort gewesen und hätte nie die dumme Idee mit der Wette gehabt.
    Er wüsste nicht, wo Amy war. Wenn man ihn fragen würde, würde er nur die Achseln zucken.
    »Vielleicht in ihrem Zimmer?«, würde er sagen, gleichgültig. »Spielt bestimmt mit ihren hässlichen rosa Barbiepferden, die sie mich nie anfassen lässt …«
    †   †   †
    Der Sturm erreichte das Dorf gegen Mittag.
    Der Himmel verdunkelte sich in Minuten, die Nacht brach in den Tag ein, die Wolken hatten die schwarzen Ränder eines Kirchenfensterbildes. Ein Weltuntergang, dachte Lenz, was da nahte, war ein Weltuntergang. Endgültiger noch als beim letzten Mal.
    Er sah ihm entgegen, er wartete an der Steilküste auf ihn, dort oben, über der Bucht, die einmal ein Kindergeheimnis gewesen war und ein Zufluchtsort und in der er später versucht hatte, Siri aufzufangen, die auf ihn zufiel. Komm nur, sagte er still, komm nur.
    Es ist in Ordnung.
    Er hatte beobachtet, wie Siri abgefahren war. Sie hatte ihn nicht gesehen, er war mit den Schatten des Dorfes verschmolzen, grau wie stets. Er hatte den alten Golf mit dem Anhänger bis ans Ende des holprigen Sandweges fahren und dann auf die asphaltierte Straße abbiegen sehen, dort, wo die Bushaltestelle war. Er hatte nur dagestanden und ihr nachgestarrt, und er hatte sich gewünscht, sie würde umkehren, trotz allem. Trotz dem, was sie mit Kaminski in der alten Küche des dunklen Hauses getan hatte, trotz der Waffe in ihrer Manteltasche, trotz der Tatsache, dass sie vielleicht die ganze Zeit über nur gespielt hatte – eine Person gespielt, die sie nicht war. Er hatte sie sich zurückgewünscht und nichts dagegen tun können.
    Auf dem Friedhof waren eine Menge Leute gewesen, er hatte sie reden hören und einen Umweg gemacht, einen langen, langen Spaziergang, allein, über die trockenen Felder, durch die roten Ausläufer des Herbstwaldes. Als er die alte Datsche betreten hatte, hatte er den Zettel gefunden. Eine Botschaft von Kaminski.
    Er musste da gewesen sein, während Lenz noch über die Felder gewandert war.
    Wart nur , stand darauf. Der Mörder wird büßen. Und seine Unterschrift. Mehr nicht.
    Er hatte alle Kaninchen getötet.
    Das einzige, kahle Zimmer der Datsche war ein Blutbad gewesen, die Körper hatten überall gelegen, an den Wänden, deren Weiß beschmiert war mit dem Rot, in achtlos hingeworfenen Haufen in den Ecken, auf der Matratze, auf der er mit Siri geschlafen hatte, auf den Fliesen der Küche, selbst auf den Küchenregalen. Eines hatte Kaminski in die Pfanne gelegt und sie auf den Herd

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