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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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erinnern wollte, an Lotte.« Er verstummte, verloren in Erinnerungen wie im Schnee.
    »Und dann? Wo hast du mich gefunden?«
    »Wo schon?« Winfried, aus anderen Erinnerungen gerissen, schnaubte.
    »Da, wo du immer gesteckt hast. Ich hab mir den Mantel angezogen und bin raus, war kein Vorankommen da mit dem Wind und dem Schnee, ich hab ewig gebraucht. Und da warst du, hattest dich irgendwie bis zum Friedhof vorgekämpft und hast da gesessen, ganz allein. Bei ihren Gräbern. Hattest angefangen, sie aus dem Schnee auszugraben, diese beiden. Hast dann wohl aufgegeben, hattest dich im Windschatten von Charlottes Grabstein zusammengekauert. Du warst völlig steif. Als ich dich aufgehoben hab, war ich sicher, du bist tot. Jetzt ist das also auch zu Ende, hab ich gedacht, aber begraben kann ich ihn nicht, nicht bei dem Wetter. Der Boden war ja vollkommen gefroren. Ich hab dich also zurückgetragen, hab dich hier auf den Fußboden gelegt, vor den Ofen, hab das Feuer gefüttert und dir die Sachen vom Leib gepellt, und da hast du noch geatmet. Das war’s. Am nächsten Morgen hast du die Augen aufgemacht. Du warst den ganzen Winter krank, aber sterben wolltest du nicht. Ich musste die Tür abschließen, die Fenster waren sowieso zugefroren. Wenn nicht, wärst du vielleicht wieder raus. Und dann hast du angefangen, mit dem Messer Sachen in den Tisch zu schnitzen. Hat gedauert, bis ich kapiert hab, dass das unser Friedhof ist, den du schnitzt. Du hattest dir jedes einzelne Grab gemerkt. Die ersten Namen hab ich dazugeschrieben, hab gemerkt, dass es gar nicht unpraktisch ist, man nimmt seinen Arbeitsplatz mit nach Hause …« Er schüttelte den Kopf.
    »Warum hast du mich nicht liegen lassen?«, fragte Lenz. »Wenn du doch dachtest, ich wäre längst erfroren? Ein Esser weniger. Erzähl mir nicht, dass du ein Kind bei dir haben wolltest.«
    Winfried machte das gesunde Auge schmal und starrte Lenz einen Moment lang an.
    »Schon wahr«, sagte er. »Ist nicht so, dass ich laut hier geschrien hätte, als es ein Baby zu gewinnen gab. Aber du warst das Kind von Jens, und Jens war eben mein Bruder. Und du warst das Kind von Charlotte. Es war, als hätt ich’s ihr versprochen.«
    »Hast du nicht. Du hättest mich da draußen lassen können.«
    »Undankbares Arschloch«, knurrte Winfried. »Wenn’s dir so lieber ist, bitte, dann denk ich nächstes Mal dran. Nächstes Mal lass ich dich verrecken.«
    Er wollte sich dem Fernseher zuwenden, aber Lenz hielt ihn auf.
    »Warum ist Lotte erfroren?«, fragte er. »War es meine Schuld?«
    Winfried antwortete nicht, starrte ihn nur mit dem gesunden Auge an. Das Glasauge blickte in eine eigene geheime Glaswelt, die es nicht preisgab. Vielleicht, dachte Lenz, sah er mit dem Glasauge Lotte, so wie sie ausgesehen hatte, als sie noch am Leben war: hübsch und jung.
    »Junge«, sagte Winfried schließlich, »halt endlich den Mund. Ich bin müde.«
    Lenz nickte. Er griff in die Tasche, holte sein Messer heraus und schnitzte sechs neue schmale Kerben in die Mitte des Tisches, an den Rand eines glatten rechteckigen Feldes.
    »Sechs neue Gräber?«, fragte Winfried. »Ich dachte, zum Verscharren ham se dich woanders hingeschickt.«
    »Das sind keine Gräber«, sagte Lenz. »Das sind die Kirchenfenster.«
    Winfried schüttelte den Kopf und stellte den Fernseher lauter.
    An den letzten Tagen vor Pfingsten wurde der Friedhof zu einer hektischen Arena für Grabpflegeartisten und Harkenjongleure, Schleifenbinder und Kuchenlistenmacher. Man erwartete Leute von außerhalb. Jetzt im Mai waren die ersten Touristen im Land, die Gottesdienste in alten Feldsteinkirchen romantisch fanden. Man wollte glänzen, und so putzte man, polierte vergessene Grabinschriften, stellte Blumensträuße in unzusammenpassenden Plastikfarben zwischen Blumen, die in zusammenpassenden Farben gepflanzt worden waren.
    Lenz sah dem wahnwitzigen Treiben von außen zu, er saß auf der Eiche und schüttelte den Kopf.
    »Weißt du noch«, sage Iris neben ihm, »wie wir hier oben gesessen haben und sie haben mich gesucht? Sie brauchten jemanden, der die Orgel spielte, weil der Organist aus der Stadt krank geworden war …«
    »Sie haben dich gefunden. Und du hast gespielt.«
    Iris nickte. »Aber am Ende habe ich drei völlig falsche Töne eingebaut«, sagte sie zufrieden. Lenz sagte ihr nicht, dass niemand es bemerkt hatte, vermutlich nicht einmal ihr Vater. Iris’ Protest war nie laut genug gewesen.
    »Kannst du dir die Gräber bei Schnee

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