Friedhofskind (German Edition)
sich warm und lebendig an.
»Iris Magdalena Weiß«, flüsterte Siri, »ist seit zweiunddreißig Jahren tot.«
Sie konnte sie nie erreichen, egal, wie schnell sie rannte. Der Schimmer blauer Seide am Rande ihres Gesichtsfeld war uneinholbar; sie war zweiunddreißig Jahre von dem Schimmer entfernt, zweiunddreißig mal dreihundertfünfundsechzig mal vierundzwanzig Stunden. Eine unüberbrückbare Zeit.
5
Die Dunkelheit vor dem niedrigen Küchenfenster war dicker als Blut und schmeckte nach Erde.
Dichte Schwarzwolken bedeckten den Frühlingshimmel. Und dann brachen sie auf, und die ersten Tropfen zerbarsten an der Scheibe, winzige Explosionen, die das wenige Licht in der Küche einfingen, ehe sie für immer in der Nacht verschwanden.
Lenz stützte die Hände aufs Fensterbrett und legte die Stirn gegen das kühle Glas.
»Junge? Warum stehst du da? Ist wer draußen?«
Für einen Moment glaubte Lenz, zwischen den Tropfen und der Dunkelheit eine Bewegung wahrzunehmen. Einen Schatten, den Saum eines Kleides. Aber da war nur der Regen.
»Junge«, sagte Winfried. »Die Suppe wird kalt.«
Lenz seufzte und setzte sich Winfried gegenüber an den Küchentisch. Die Suppe sah aus wie ein Teller voll Regen. Winfried sah sie mit dem linken Auge an, ein wenig misstrauisch, als könnte die Suppe, die er selbst gekocht hatte, sich als etwas anderes entpuppen.
»Wo warste denn?«, fragte er. »Ham se woanders auf der Insel wieder jemand zu verscharren gehabt?«
Lenz nickte.
»Schön«, sagte Winfried. »Kommt Geld rein.«
»Sie bezahlen mich immer«, sagte Lenz. »Auch, wenn ich niemanden begrabe. Es ist nicht wie damals, kapier es endlich. Ich habe eine reguläre Arbeit.«
»Einen regulären Scheiß hast du«, knurrte Winfried. »Das ist ein Ein-Euro-Job, und du weißt es.«
»Es ist ein Job.«
»Red dich nicht raus. Mit jedem Grab gibt’s Geld extra«, sagte Winfried. »Sie geben immer was.« Er nickte zu der Blechdose neben der Spüle. Sein Nicken war ein Befehl.
Lenz griff stumm in die Tasche und holte eine Handvoll Münzen heraus. Dann stand er sehr langsam auf, ging hinüber und ließ die Münzen in die Blechdose regnen. Ich bin noch immer fünf Jahre alt, dachte er.
Sie aßen schweigend weiter, im niedrigen Gelblicht der alten Lampe. Lenz sah Winfried an. Er verzog den Mund auf seltsame Art zur Seite, wenn er den Löffel hineinsteckte, die Symmetrie in seinem Gesicht war nach dem Schlaganfall verloren gegangen. Sie hatte auch vorher nicht ganz gestimmt, wegen des Glasauges, das sich nicht mitbewegte. Lenz erinnerte sich nicht, wie Winfried vor dem Glasauge ausgesehen hatte.
Er war immer groß gewesen, das war das Einzige, was Lenz sicher wusste. Wenn er an seine Kindheit dachte, dachte er an Winfried nur als Winfried-von-unten-aus-betrachtet. Dann war er eines Tages größer gewesen als Winfried, hatte Winfried-von-oben-aus-gesehen, eine magere, gebeugte Gestalt, die immer eine gewisse Distanz wahrte, egal, wie nah man ihr war. Es hatte, dachte Lenz, kein Zwischenstadium gegeben; keine Zeit, in der er mit Winfried auf Augenhöhe gewesen wäre.
Er schob den Suppenteller weg und legte seine Hände auf den Holztisch, dessen Oberfläche zerklüftet war von hineingeschnitzten Kerben und Buchstaben.
»Winfried«, sagte er leise. »Wann … wann habe ich damit angefangen? Mit dem Tisch?«
»Warum willst du das wissen?«
»Ich versuche«, sagte Lenz langsam, »mich zu erinnern. Aber es gelingt mir nicht. Ich versuche, Dinge herauszufinden über mich und über … damals.«
Winfried seufzte, und als Lenz aufsah, stand er da, auf seine Krücke gelehnt, und sah ihn an. In seinen Augen lag etwas beinahe Weiches.
»Du warst vier«, sagte Winfried. »Es war ein schlimmer Winter. Schnee seit November, der Pflug kam nicht durch. Wir haben mit der Schneeschaufel unsere Wege gegraben wie Gänge, das weiß ich noch, wie die Maulwürfe. Der Wind hat den Schnee über die Felder gefegt, die Schneewehen waren so hoch wie die Häuser. Ein paar Tage hast du mit der Nase am Fenster geklebt, und dann warst du weg. Einfach weg. Erst hab ich dich gesucht, dachte, du versteckst dich irgendwo im Haus. Dann hab ich gewartet, dass du von selber wieder aus deinem Versteck auftauchst.«
»Aber ich bin nicht aufgetaucht.«
»Nein. Ich weiß noch, dass ich gedacht hab: Das ist wie der Winter, in dem Charlotte gestorben ist, wie der Winter, in dem der Junge zu mir gekommen ist. Die Schneestürme waren die gleichen. Als ob uns jemand
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