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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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vorstellen?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe sie nie gesehen. Bei Schnee.«
    »Wo bist du – im Winter?«
    Er wandte sich ihr zu, um sie anzusehen, aber sie saß nicht mehr neben ihm.
    Und unten waren immer noch zu viele Leute, die sich plötzlich um ihre Toten kümmerten.
    Sie hatten keine Ahnung von den Toten, sie kamen sonst nie hierher; sie waren lächerlich mit ihren Blumensträußen. Lenz kannte jeden einzelnen Toten. Er kannte ihre steifen weißen Hände, ihre für immer eingefrorenen Gesichtszüge; sie waren, wie die Lebenden, Individuen, und – im Gegensatz zu den Lebenden – ewig. Niemand hörte jemals damit auf, tot zu sein.
    Die da unten, die Scheinheiligen, hatten keine Ahnung, sie hatten längst vergessen, wie das ausgesehen hatte, was in den Gräbern lag, was es gedacht hatte oder warum es gestorben war. Er wollte, dass sie gingen, die Grabschänder mit ihren hässlichen Sträußen.
    Als Lenz in der Dämmerung schließlich von der Eiche kletterte, waren seine Knie steif.
    Er wanderte über den Friedhof bis zu zwei Grabsteinen, die in einer Reihe von anderen an der Mauer lehnten: Grabsteine ohne Gräber, denn die Gräber waren aufgrund einer allgemeingültigen Anordnung nach dreißig Jahren Liegezeit eingeebnet worden. Dass das Grab mit dem Schneehuhn noch existierte, begriff selbst Lenz nicht. Er streckte die Hand aus, berührte den Stein.
    Charlotte Fuhrmann, 1.   6.   1953   –   24.   12.   1971
    Er erinnerte sich nicht an den Winterabend, an dem er hinter diesem Stein Schutz vor dem Sturm gesucht hat. Nicht an diesen und nicht an jenen anderen Winterabend, vier Jahre früher, an dem Lotte mit dem Kinderwagen in den Schneesturm hinausgegangen war – aus Gründen, die niemand je erfahren würde. Natürlich erinnerte er sich nicht, er war vier Monate alt gewesen.
    »Unglückskind«, flüsterte Lenz. »Friedhofskind.«
    Er ließ seine Hände von Lottes Grabstein zu dem daneben gleiten, fuhr mit den Fingern die Inschrift nach, die er so oft von Moos befreit hatte.
    Jens Fuhrmann, 5.   5.   1945   –   6.   1.   1972
    Er hatte auch an seinen Vater keine Erinnerung. In jenen ersten eisigen Januartagen war Jens Lotte nachgegangen, hinaus ins weiße Nichts, und nicht zurückgekehrt. Als sie ihn fanden, hielt er das einzige Foto von ihr umklammert, das er besaß und das heute Winfried besaß, stark beschädigt, aber noch erkennbar: Es zeigte Lotte auf einer Schaukel, die vermutlich eine Attrappe des Fotografen war. Lotte war blond gewesen wie Iris, blond und sehr schön.
    Lenz hatte nichts von ihrer Schönheit geerbt, obwohl er oft nach der Ähnlichkeit gesucht hatte. Wenn Winfried die Oberflächen der neueren Grabsteine zu irgendeinem feierlichen Anlass blank poliert hatte, hatte Lenz sich als Kind davorgestellt und sein Spiegelbild in der glatten Oberfläche betrachtet. Hatte er Lottes Augen? Ihre Ohren? Ihre Stirn?
    Winfried, der einzige andere am Ort lebende Fuhrmann – vormals einer von Lottes vielen Verehrern –, hatte Lenz geerbt wie ein Stück Land, wie ein Stück Vieh, wie eine alte Taschenuhr. Aber im Gegensatz zu einer Taschenuhr hatte er sich nicht weiterverkaufen lassen.
    Er fand Iris wenig später am Zaun des roten Hauses, das am Dorfeingang stand – ein adrettes Haus mit adretten Blumentöpfen auf einer adrett betonierten Einfahrt.
    »Iris«, hatte er sagen wollen, »Iris, komm mit, lass uns am Steg unten Schiffchen bauen, auch wenn es schon beinahe Nacht ist. Da ist so eine seltsame Art von Schwere in mir. Ich versuche, Dinge über früher herauszufinden, aber wenn man einmal damit anfängt, gerät man in einen ganzen Strudel aus Früher … und am Ende ist man wieder vier Jahre alt und sehr kalt und sehr allein.«
    Aber all das wurde nicht gesagt, denn Iris stand am Zaun des adretten roten Hauses. Der Zaun war gute zwei Meter hoch und aus grünem plastikummanteltem Maschendraht, und dahinter gab es ein nagelneues Riesentrampolin.
    Darauf sprangen Kinder, ein Kleinesmädchen und ein etwas weniger kleiner Kleinerjunge, sie sprangen im Licht einer Außenlampe, hoch und juchzend.
    »Guck mal«, flüsterte Iris. »Wie hoch man in die Luft hinaufkommt! Ich möchte das auch probieren!«
    »Wir könnten über das Tor klettern«, sagte Lenz leise. »Später, wenn sie schlafen.«
    Iris schüttelte den Kopf. »Ich habe es probiert. Gestern. Es funktioniert nicht. Ich kann über das Trampolin gehen, ohne einzusinken. Nur du spürst mein Gewicht.« Sie zuckte die

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