Friedhofskind (German Edition)
er nichts sah. Der Pfarrer verstummte.
»Spielt doch nicht Verstecken mit mir!«, rief Winfried. »Ich hör euch atmen! Sagt mir doch, ist der Junge hier ?«
Er machte noch ein paar Schritte vorwärts, und Lenz sah, dass sich ein dunkler, nasser Fleck auf seiner durchgewetzten Trainingshose ausbreitete. Die Leute am Gang wichen zurück. Auch Winfrieds Hemd war nass, verschmiert mit Essensresten oder Erbrochenem, sein schütteres Haar verklebt. Der Pfarrer stand stumm und blass vorne vor dem Altar.
Getuschel, Geraune und Gemurmel erhob sich von den Kirchenbänken wie das Summen von Bienen, ängstlichen und daher aggressiven Bienen.
»Es ist so dunkel!«, rief Winfried, ließ seine Krücke los und griff mit beiden Händen ins Leere. »Es ist furchtbar dunkel!« Dann holte er tief Luft und schrie, so laut, dass das Wort die ganze Kirche erfüllte: »Lenz!«
Beinahe gleichzeitig versuchte er, ohne die Krücke voranzukommen, verlor das Gleichgewicht und stürzte krachend auf den Boden zwischen die Bänke.
»Schaff ihn hier raus!«, hörte Lenz jemanden sagen, aber da stand er schon, war mit ein paar langen Schritten bei Winfried und kniete neben ihm. Winfried lag da wie ein vom Himmel gestürztes Insekt, seine aufgerissenen Augen blickten an die Kirchendecke, wo aufgemalte Holzengel schwebten, die er nicht sah. Er war gegen die Stirnseiten einer Bank gefallen, sein gesundes Bein war in einem merkwürdigen Winkel abgeknickt, und aus einer Platzwunde an seiner Stirn sickerte ein dünnes Rinnsal Blut in seinen Hemdkragen. Da war noch mehr Blut, bereits geronnenes Blut, Lenz sah es jetzt; Blut aus einer großen Schramme an Winfrieds Schulter. Die Leute, die am nächsten saßen, drückten sich aneinander, schreckstarr.
»Man muss etwas tun«, sagte jemand. Aber niemand tat etwas.
Lenz zog Winfried hoch, er war schwer; er war kleiner als Lenz, aber nicht klein.
Und dann war da noch eine Hand, die Winfried packte, eine schmale weiße Hand, und Lenz sah auf.
»Was tun Sie da?«, fauchte er.
»Ich helfe Ihnen, ihn rauszuschaffen«, antwortete die Fensterfrau.
»Lassen Sie das«, knurrte Lenz. »Sie haben nichts mit uns zu tun.«
»Aber Sie schaffen es nicht allein«, sagte die Fensterfrau, und sie hatte, ärgerlicherweise, recht.
Sie bekamen Winfried irgendwie auf die Beine, er murmelte jetzt vor sich hin, aber Lenz verstand nicht, was er sagte. Die Blicke der Leute folgten ihnen den ganzen Mittelgang entlang, und es war auf einmal ein sehr langer Mittelgang. Der junge Pfarrer holte sie bei der Tür ein, er war der Einzige, der ihnen nachkam.
»Ein Krankenwagen!«, sagte er. »Ich werde einen Krankenwagen rufen …«
Er sprach zu der Fensterfrau, nicht zu Lenz. »Kennen Sie diese beiden hier? Was ist …?«
»Wir kommen klar«, sagte Lenz sehr deutlich und etwas zu laut. Der Pfarrer zuckte zusammen. »Ich bin durchaus in der Lage, selbst einen Krankenwagen zu rufen. Gehen Sie rein und predigen Sie weiter.«
Er sah die Verwirrung auf dem Gesicht des Pfarrers. Schließlich hob er die Schultern, nicht glücklich über die Lage, und kehrte in die Kirche zurück. Frau Henning war zur Tür gekommen, um sie zu schließen.
»Nicht mal an Pfingsten«, sagte sie mit einem bitteren Blick zu Lenz. »Nicht mal, wenn fremde Leute hier sind … Touristen … nicht mal dann könnt ihr euch benehmen wie normale Menschen.« Sie schüttelte den Kopf und zog die Tür zu.
Einen Moment lang stand Lenz einfach so da, während Winfried an seinem Arm hing, und atmete die Frühlingsluft ein und aus.
»Zuerst nach Hause?«, fragte die Fensterfrau, sehr sachlich.
Lenz nickte. »Winfried? Kannst du gehen?«
Winfried versuchte, das Bein zu belasten, und knickte weg, murmelnd, fluchend.
So schleiften sie Winfried zusammen die Straße entlang, während es zu regnen begann.
»Geh aus, mein Herz, und suche Freud«, sang die Fensterfrau ganz leise. Da waren keine falschen Töne. Und in ihrer Stimme klang wieder etwas mit, das ihn verwunderte. Etwas Tapferes, aber Frierendes. Etwas Doch-nicht-so-Starkes. Einbildung.
Die Tür stand offen. In der Küche sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Ein Suppentopf lag in einer Pfütze auf dem Fußboden, ein Stuhl war umgestoßen, die Scherben mehrerer Teller bedeckten die Dielen.
Sie setzten Winfried auf einen Stuhl, und er stützte sich mit beiden Armen auf die zerklüftete Tischplatte. Er hatte aufgehört, zu murmeln. Lenz hob den umgefallenen Stuhl auf und schob ihn der Fensterfrau
Weitere Kostenlose Bücher