Friedhofskind (German Edition)
alt ist er?«, fragte sie.
»Vierundsiebzig.«
»Er sieht aus wie neunzig«, sagte sie. »Eine Weile ist er dadrinnen jetzt ganz zufrieden, mit seinem Fernseher, oder? Eine Weile kann man ihn allein lassen. Ich muss ein Stück gehen, an der Luft«
»Gehen Sie.«
»Und Sie? Rufen Sie den Notarzt?«
»Er wird ihn nicht an sich heranlassen. Nein. Ich …«
»Wenn Sie keinen Notarzt rufen, können Sie auch mitgehen«, sagte Siri. »Spazieren.«
»Spazieren«, wiederholte Lenz. Es klang wie ein Wort aus einem Roman. Er lachte. »Spazieren gehen ist nichts, was ich tue.«
»Natürlich. Sie gehen zum Steg hinunter und über die Felder … ich habe Sie über die Felder rennen sehen. Rennen. Wie …«
»Wie ein Kind«, sagte er. Und das Wort schmeckte bitter auf seiner Zunge. »Das bin ich. Ich bin das Friedhofskind. Die Leute haben es Ihnen doch erklärt, oder nicht? Ich bin der, der zwischen den Grabsteinen sitzt und ins Leere starrt. Der, vor dem man vielleicht Angst haben sollte. Dem man besser ein paar Münzen zusteckt. Ich bin der, der rückwärts durch die Kirche geht, während die anderen singen, der Dorftrottel.« Er musste diese Frau loswerden. Er sah sie an, und die Tatsache, dass sie Winfried zusammen gewaschen hatten, erzeugte ein ungewohntes Gefühl von Nähe. »Gehen Sie«, sagte er schroff. »Danke für alles, aber gehen Sie.«
»Hatten wir nicht beschlossen, uns beim Vornamen zu nennen?«
»Verlangen Sie jetzt nicht, dass ich Sie duze.« Er wollte mehr sagen; darüber, weshalb sie gehen musste, aber er hatte den Faden verloren. Wie sie da stand, so viel kleiner als er, ihre Silhouette so schmal und flüchtig, sah sie selbst aus wie ein Kind. Als könnte der Wind sie im nächsten Moment aufheben und fortwehen … er schüttelte den Kopf. Er dachte schon wieder wirres Zeug. Natürlich, es war die Aufgabe eines Dorftrottels, wirres Zeug zu denken. Nichts und niemand würde sie fortwehen, sie war stark.
»Als ich durch die Kirche gegangen bin, während des Liedes«, sagte er leise. »Und als ich gerannt bin, über die Felder … es hatte einen Grund … ich war nicht allein.«
Natürlich war er allein gewesen, die Fensterfrau konnte Iris nicht sehen.
»Nein«, sagte sie. »Sie waren nicht allein. Und wenn Sie jetzt mitgehen würden … dann wären Sie auch jetzt nicht alleine.«
Damit drehte sie sich um und ging einfach, ging den schmalen Trampelpfad zwischen den unbeschnittenen Hecken entlang – und war verschwunden. Natürlich war sie nur auf den größeren Weg abgebogen, der quer durchs Dorf führte und den manche eine Straße nannten. Aber ihr Verschwinden erinnerte ihn an Iris. Ein blaues Kleid – ein geblümter Regenmantel.
Schwarze Lackschuhe – zerkratzte rote Gummistiefel.
Blonde Locken – kurzes braunes Haar.
Nichts stimmte. Wie kam er nur auf die Idee, Ähnlichkeiten zu suchen?
† † †
Sie dachte an die Worte des alten Fuhrmann, als sie die Straße entlangging, den Wind im Haar. Sie dachte daran, was er zu ihr gesagt hatte, als sie einen Augenblick allein mit ihm im Bad gewesen war:
Ich habe sie gesehen. Das tote Mädchen. Iris. Sie ist ertrunken, damals … keiner weiß so genau, wie … sie stand am Küchenfenster und guckte raus. Blaues Kleid, weiße Strümpfe, schwarze Lackschuhe: die Sachen, in denen wir sie beerdigt haben. Und dann hat sie sich zu mir umgedreht. Vielleicht wollte sie was sagen. Aber da wurde alles schwarz.
Lenz holte sie ein, als sie die letzten Häuser des Dorfes schon hinter sich gelassen hatte. Sie verbarg ihr Lächeln hinter dem braunen Wollschal. Eine Weile gingen sie schweigend zwischen den Feldern entlang, wo der Weg im leisen hügeligen Land versank.
Du solltest Angst haben, sagte Siri sich. Du bist ganz alleine mit ihm. Die kleine Iris ist mit sechs Jahren ertrunken, und keiner weiß, wie. Ertrinken kann jeder immer. Und auch sonst kann jedem immer einiges passieren. Treppen herunterfallen zum Beispiel ist eine unangenehme Sache …
Der lange Schatten, der neben ihr auf den Weg fiel, war sehr dunkel.
Dunkel wie das Haus, in dem der Fernseher laufen musste, damit der alte Fuhrmann wusste, dass er lebte. Vierundsiebzig, dachte Siri, er ist erst vierundsiebzig. In den Kreisen, in denen sie sich sonst bewegte, gingen die Leute mit vierundsiebzig zum Sporttraining und machten Reisen in den Himalaya. Der Junge und ich , hatte er gesagt, sind immer gut alleine klargekommen. Der Junge. Wie alt war Lenz Fuhrmann? Mitte vierzig?
Weitere Kostenlose Bücher