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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Nichts hier stimmte.
    »Über was Sie so alles nachdenken!«, sagte er.
    »Können Sie es hören? Was ich denke?« Sie lachte, ungläubig, und er schüttelte langsam den Kopf.
    »Nein. Aber Sie denken eine Menge nach.«
    »Und hier, im Dorf? Sind Sie der Einzige, der nachdenkt?«
    »Sehen Sie, da drüben«, sagte er. »Die Reiher. Seit ein paar Jahren haben wir hier weiße Reiher. Alles auf der Welt ändert sich ständig. Das Wasser steigt, und die weißen Seidenreiher brüten.«
    »Der Vogel auf Iris’ Grab … was ist das für einer?«
    Er zuckte zusammen. »Ein Schneehuhn.«
    »Warum … ein Schneehuhn?«
    Da hob er die Schultern. »Weil ihr Vater es sich nicht richtig gemerkt hat. Er hat sich selten etwas richtig gemerkt. Es sind die Singschwäne, die sie liebt. Ein Schneehuhn … keiner von uns hat je ein Schneehuhn gesehen!« Er musterte sie von der Seite, sie spürte seinen Blick, der keine Farbe hatte, nur grau war und aus Stein. »Sie haben also ein paar Dinge herausgefunden. Iris, das Grab, das Schneehuhn. Sie spielen Detektiv. Wer spielt, kann verlieren.«
    »Was ist der Einsatz?«, fragte sie und blieb stehen.
    »Das hier ist kein Pokertisch. Es ist ein Dorf.«
    Siri holte tief Luft. »Waren Sie das, der den Umbrich gewarnt hat, damit er mir nicht zu viel erzählt? Er hätte tot sein können. Die Treppe ist sehr steil.«
    Er schüttelte den Kopf, kaum merklich. Aber sie wusste nicht, was er genau damit meinte.
    Sie konnte es sich nicht vorstellen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie Lenz Fuhrmann den alten Mann von der Treppe stieß. Eine Pistole … der Umbrich hatte etwas von einer Pistole gesagt. Auch das Bild von Fuhrmann mit einer Pistole in der Hand wirkte skurril. Die Waffe würde winzig wirken in seinen Händen.
    »Nein, das Dorf ist kein Pokertisch«, sagte Siri. »Ich versuche nur, zu verstehen, wie es tickt. Die Fenster sollen etwas mit den Menschen zu tun haben. Mit ihren Träumen und Wünschen und ihren … Saatkartoffeln.«
    Sie gingen schweigend weiter. Sie gingen in Richtung Meer. Siri spürte den Wind, der von dort kam, und steckte die Hände tief in die Taschen des geblümten Regenmantels.
    »Sie wollen wissen, wie das Dorf tickt«, sagte Lenz. »Und Sie? Wie ticken Sie? Der … Mantel zum Beispiel. Sie verstecken sich darin. Sie lächeln so viel, und sie reden über das Licht in den Fenstern, und trotzdem verstecken Sie sich. Haben Sie etwas gegen Ihren Körper?«
    »Unsinn«, sagte sie und lachte. »Ich mag nur den Mantel. Da, sehen Sie? Man kann das Meer von hier sehen. Am schönsten ist seine Farbe an windigen Tagen.«
    »Ihre Augen«, sagte Lenz. »Das ist die Farbe Ihrer Augen. Alle Touristen mögen das Meer. Aber es ist nicht da, um schön auszusehen. Es ist gefährlich. Das Leben kommt aus dem Meer, und irgendwann kommt es und holt sich das Leben wieder.«
    »Es ist trotzdem schön«, sagte Siri. »Wir könnten hinunterrennen. Bis zum Steg.«
    Sie wartete nicht ab, ob er mitrannte, sie rannte alleine los, spürte, wie der Mantelsaum hinter ihr herflog, und fühlte ein Lachen in sich.
    Ich benehme mich wie ein kleines Mädchen, dachte sie. Es ist gut, sich manchmal so zu benehmen.
    Sie blieb erst ganz vorn auf dem Steg stehen. Keines der Fischerboote lag hier vertäut, sie waren alle irgendwo draußen auf dem Wasser.
    Siri drehte sich um.
    Lenz Fuhrmann kam langsam über den Steg, stellte sich neben sie. Schwieg.
    »Ausgangs- und Endpunkt«, sagte Siri und nickte zum Meer hin. »Ja. Leben und Tod. Ist das nicht merkwürdig? Wir haben hier die beiden äußersten Punkte: den alten Fuhrmann und Iris. Aber Iris, der Anfangspunkt des Lebens, ist tot, und Winfried Fuhrmann lebt.«
    Lenz sagte gar nichts.
    Nur der Wind strich durchs Schilf, und ein Graureiher flog lautlos über das Wasser hin.
    Und plötzlich sagte Siri etwas, das sie nicht hatte sagen wollen. Etwas, das mit seiner Frage nach ihrem Körper zusammenhing.
    »Als ich ein Kind war«, sagte sie leise, »hatte ich Lähmungen an den Beinen. Ich musste eine Menge Gymnastik machen. Ich weiß noch, meine Beine waren dünner und blasser als die aller anderen Kinder … mein Vater wollte, dass ich tanze. Ballett. Er hat gesagt, es würde mir helfen, ein Gefühl für meinen Körper zu bekommen. Natürlich war das nicht der wahre Grund. Er wollte mich tanzen sehen. Er wollte sehen, wie aus dem hässlichen Entlein ein schöner Schwan wird. Es ist nicht passiert.« Sie zuckte die Schultern.
    »Und die anderen Kinder haben Sie

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