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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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standen nur zwei Autos dort. Hinter ihnen stand eine alte Schaukel, auf der ein kleiner Junge lachend in den Himmel flog. Seine Großmutter ließ die Schaukel fliegen; daneben schraubte ein älterer Herr an einem aufgebockten Motorboot herum. Im ersten Garten winkte ein rotbemützter Gartenzwerg dem Motorbootschrauber mit seiner Schaufel.
    Hinter einer anderen Hecke stand ein Mann in einer teuren Windjacke über den Rumpf einer Jolle gebeugt und besserte ebenfalls irgendwelche Schäden aus.
    Siri war stehen geblieben, und Lenz folgte ihrem Blick.
    »Eine andere Sorte Sonntagsexistierer«, sagte er leise. »Die glückliche Familie bei der Schaukel, das ist die Familie des Professors. Die Eltern des Kleinen sind auch Ärzte, eine ganze Familie von Ärzten. Reparierer. Sie reparieren den Steg, wenn das Eis im Winter die Balken lockert.« Er lächelte, aber es war irgendwie ein trauriges Lächeln; ein Lächeln über die Dinge, die man nicht reparieren konnte. Sie fragte sich, woran er dachte. »Und der mit der Jolle«, sagte er rasch, ehe sie laut fragen konnte, »ist der Direktor. Ehemaliger Direktor der Musikhochschule in der Stadt. Er sucht die Musik in den Bäumen. Aber er findet sie nie. Nicht mal vom Wasser aus. Dieleute im Dorf lachen über ihn«
    Siri sah eine junge Frau aus dem Haus treten und über die Wiese gehen, auf die Jolle und den Direktor zu. Sie hielt ein Baby im Arm.
    Als sie herübersah und ihr Blick Siris traf, lächelte sie. Ihr dunkles Haar war zu einem kurzen Pagenkopf geschnitten und zurechtgeföhnt, adrett, hübsch, angenehm, es wippte hinten ein wenig auf und ab, wenn sie ging. Das Baby auf ihrem Arm war sehr klein und hatte eine sehr große Nase. Es trug einen Anzug in Dunkelblau und Weiß und ein passendes gestreiftes Mützchen. Und für Sekunden schoss etwas Warmes durch Siri, beinahe wie ein Schmerz.
    Ein Kind zu haben … wie wäre das, ein Kind zu haben?
    »Seine Schwiegertochter«, sagte Lenz, »war auch Musikerin, bevor die Kleine da war. Das Baby.«
    Siri nickte und ließ ihren Blick über die anderen Datschen mit ihren ordentlich gemähten Grundstücken schweifen. Sie stellte sich vor, wie die Kleine groß würde und mit dem Jungen zusammen in den Himmel schaukelte, lachend … wie ein anderes kleines Mädchen vor langer Zeit.
    »Welche Datsche … haben Iris’ Eltern gebaut?«
    Lenz nickte stumm zu dem Grundstück neben dem des Direktors. Auf dem Rasen vor dem Haus saßen vier Kaninchen. Das Haus sah so ordentlich aus wie alle anderen auch. »Steht leer.«
    »Seit dreißig Jahren?«
    »Seit dreißig Jahren.«
    »Und wer beschneidet die Hecken?«, fragte Siri. »Und hält den Rasen kurz?«
    »Wenn wir hier weitergehen«, sagte er, »kommen wir an die Steilküste. Es ist schön dort. Wächst eine Menge Sanddorn.«
    Siri nickte und folgte ihm langsam den Weg entlang, der jetzt in die Höhe führte. Er war schmal hier, kaum noch ein Pfad, eingebettet in Sanddornbüsche, und sie musste hinter Lenz gehen. An manchen Stellen war der Weg wie ein Tunnel, die Äste wuchsen darüber und griffen ineinander, und Siri musste in die Dornen greifen, um sie zur Seite zu biegen. Aber der Sanddorn war voller Leben, voller winziger silbergrüner Knospen, voller glühend orangefarbener Beeren vom letzten Jahr. Er schützte nur sich selbst mit seinen Dornen. Das ist es, was wir alle tun, dachte Siri; wir schützen uns selbst. Am höchsten Punkt des Weges blieb Lenz Fuhrmann stehen und wartete auf sie. Die Sonne hatte jetzt den Himmel zurückerobert, sie bemalte die Stämme des Waldes golden und ließ das Glutorange der alten Sanddornbeeren leuchten wie Juwelen. Das Hellgrün der frischen Kiefernnadeln strahlte, und das Blau des Meeres zur Linken funkelte.
    Nur Fuhrmanns große graue Gestalt fing kein Sonnenlicht ein. Er stand in seiner grauen Jacke und seiner grauen Hose da wie ein Stein, ein Denkmal … ein Grabmal. Das Mädchen, dachte Siri, Iris mit ihrem blauen Kleid, sie hätte ins Bild gepasst. Er nicht. Er passte in kein Bild.
    Und vielleicht folgte sie ihm gerade deshalb den Weg oberhalb der Steilküste entlang.
    Es gab ein einfaches Geländer auf der Seite, die steil abfiel. Siri ließ ihre Hand daran entlanggleiten, um das glatte Holz zu spüren, das das Sonnenlicht aufsog.
    »Manchmal stürzt ein Stück Küste ab«, sagte Lenz. »Da vorn, sehen Sie? Der Weg führt jetzt um den Abbruch herum. Die Stelle, wo der alte Weg langlief, ist seit dem Winter abgesperrt.«
    Sie blieben hinter der

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