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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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ausgelacht.«
    »Möglich.«
    »Ich mag keine Kinder«, sagte er.
    »Ich auch nicht. Es gibt diesen Satz, den jeder so gerne sagt. Kinder sind grausam.«
    »Das ist nicht wahr«, sagte er. »Erwachsene sind auch grausam. Der Satz muss heißen: Menschen sind grausam.«
    »Das ist eine überflüssige Feststellung«, sagte Siri. »Das ist es, worum sich die Erde dreht … ohne Grausamkeit gibt es keinen Umsatz und keinen Fortschritt.« Sie holte tief Luft. »Es ist zum Glück lange her, mit meinen Beinen. Später … ist dann ja alles besser geworden. Ich habe alles, was ich mir wünschen kann.«
    Sie lauschte dem Satz nach und fuhr wieder mit den Fingern über ihren Schal. Ich werde telefonieren, dachte sie, mit dem roten Telefon. Heute Abend. Ich werde Tee in der weiß-blauen Streublümchenkanne kochen und meine Muschelsammlung ansehen und telefonieren. Frau Henning wird lauschen. Soll sie. Ich bin kein Kind mehr, das ausgelacht wird, und ich habe alles, was ich mir wünschen kann …
    Auf dem Weg vom Dorf kamen jetzt zwei andere Spaziergänger näher: ein junger Mann und eine Frau, jeder mit einem Hund an der Leine. Die Hunde waren klein und bullig, die Art schwarz-weißer Hund, die aussieht wie ein Tapir, aber nicht wie ein sympathischer Tapir. Die Frau trug eine weiße Daunenjacke und der Mann das Haar sehr kurz. Die Daunenjacke war abgesteppt und aus figurbetonendem Vollplastik, das Haar des Mannes nur am Kinn vorhanden, als lässig zusammengezwirbelter Ziegenbart. Sie spürte die Blicke der beiden.
    Guck mal einer an, sagten die Blicke, das Friedhofskind und die fremde Frau. Zusammen am Steg. Aha?
    »Die Schwiegertochter und der Sohn von Frau Henning«, sagte Lenz.
    »Ich wusste nicht, dass sie einen Sohn und eine Schwiegertochter hat.«
    »Natürlich nicht«, sagte Lenz. »Es ist Sonntag. Sie existieren nur sonntags. Außerhalb ihres Grundstücks, meine ich. An Wochentagen sind die Hunde im Zwinger. Die Menschen … auch.« Er nickte mit dem Kopf in Richtung der beiden, und Siri sah, dass sich dort, hinter ihnen, noch etwas auf dem Weg näherte, dröhnend und Sand verspritzend: drei Quads, deren Fahrer Siri ebenfalls noch nie gesehen hatte. Auch sie hatten nicht übermäßig viele Haare.
    »Es gibt mehr junge Leute hier, als ich dachte«, sagte Siri und sah zu, wie die Quads sich in einer Staubwolke näherten. »Existieren die auch nur sonntags?«
    »Die existieren gar nicht«, sagte Lenz.
    »Wie bitte?«
    »Sie sind gewöhnlich damit beschäftigt, nichts zu tun, nichts zu denken und nichts zu sein«, sagte er leise. »Gute Freunde von Kaminski.«
    Sie sah ihn an. »Der, der vom Dach gefallen ist.«
    Lenz nickte. Er hatte die Hände in die Taschen der grauen Arbeitshose gesteckt und sah in die Ferne, nicht eigentlich zu den Quads, sondern an ihnen vorbei. Das graue Tuch, das er um den Hals trug, war unglaublich schmuddelig. Der festgezogene Knoten darin wirkte, als hätte er ihn seit Monaten nicht geöffnet, und seine Jacke war voller zeitverblasster Flecken. Siri versuchte, die Jacke zu lesen wie eine Karte – sie las die Flecken von Motorschmiere (der Mechanismus der Kirchenglocke) und von Erde (Blumenzwiebeln), von Kaffee (ein trostloser Morgen in der lichtlosen Küche des geduckten Reetdachhauses) und von etwas Dunklem, Neuerem, das vielleicht Blut war (das Blut des alten Fuhrmann? War es auf die Jacke gelaufen, als sie ihn nach Hause geschleift hatten? Oder war es das Blut von jemand anderem?). Sie dachte an Wasser und Seife und Licht. Und wieder an die Teekanne, weiß mit blauen Streublümchen, hell.
    Ich werde jetzt zurückgehen, wollte sie sagen.
    Aber sie sagte es nicht.
    Sie drehten sich gleichzeitig um und gingen in die andere Richtung, weg vom Dorf, von den Quads und dem Pärchen mit den Hunden. Weg von der Ferienwohnung.
    Warum tat sie das? Hatte sie sich nicht eben noch nach dem roten Telefon gesehnt? Da war ein Knoten in ihren Gefühlen, sie wusste nicht einmal, woher er kam. Vielleicht von Fuhrmanns Frage. Oder von ihrer Antwort. Das Telefon würde warten.
    Hier faltete sich die Küste in die Höhe und nahm den Pfad mit in einen Wald aus windgebeugten Kiefern, doch ehe der Weg anstieg, führte er an einer Gruppe kleiner, garagenartiger Gebäude vorüber, die von ordentlich beschnittenen Hecken umgeben waren. Datschen. An den Gartentoren standen Nummern, ein Schild verbot Unbefugten das Benutzen des kleinen, sorgfältig gemähten Stücks Wiese, das offenbar als Parkplatz diente. Jetzt

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