Friedhofskind (German Edition)
gesperrten Stelle stehen und sahen in die Tiefe. Weit unten lag ein schmaler, steiniger Strand, an den das Meer in kleinen Wellen schlug.
»Keine gute Idee, da hinunterzufallen«, sagte Siri leise. Eine schlechtere Idee noch, als von Dächern zu fallen. Oder von Kirchentreppen.
»Nein.«
»Hat es denn schon jemand getan? Ist jemand hinuntergefallen?«
»Nein«, sagte er, langsam, als müsste er erst darüber nachdenken. »Nein. Hier nicht. An anderen Stellen auf der Insel. Es passiert immer wieder. Das Land bricht ab und reißt jemanden mit in die Tiefe. Komisch. Die Leute hören trotzdem nicht auf, hier entlangzuwandern.« Dann hob er den Blick und richtete seine Steinaugen auf den Horizont. »Vielleicht ist es das Meer, das sie lockt. Diese Linie da draußen. Man kann über das Wasser bis ins Nichts sehen, wissen Sie? Ich stehe manchmal hier und tue das.«
»Nicht allein.«
Er sah sie von der Seite an. »Sie wollen etwas über Iris hören. Unbedingt. Sie wollen verstehen. Sie wollen endlich die richtige Schublade finden, in die Sie mich stecken können, die Schublade mit der Aufschrift verrückt oder krank oder harmlos oder gefährlich .«
»Ich …«
»Schubladen sind gut«, sagte er. »Wenn man alles in Schubladen gesteckt hat, liegt nichts mehr herum, über das man stolpern kann. Es ist nichts mehr da, was einen bedroht.«
»Und deshalb haben Sie mich auch schon in eine Schublade gesteckt«, sagte Siri. »Auf der Schublade steht: neugierige Fremde. Schnell wieder loswerden .«
»Natürlich«, sagte Lenz ernst.
Sie gingen schweigend weiter, und Siri hörte die Vögel in den Kiefern singen. Die Farben des Nachmittags strahlten wie die eines Kirchenfensters, doch sie begann, die Kirchenfenster zu vergessen. Alles zu vergessen. Zu vergessen, warum sie hier war. Sie war nur eine Spaziergängerin an der Steilküste, eine Person mit Augen, die den Frühling sahen, und Ohren, die ihn hörten, eine Person in einem geblümten Mantel, die keinen anderen Grund hatte, hier zu sein, als den, dass es schön war. Sie hatte keinen Auftrag und keine Zweifel. Und keine Angst.
Lenz blieb stehen und lehnte sich an das Holzgeländer, das die Steilküste hier vom Weg trennte. Und sie lehnte sich ebenfalls daran und sah mit ihm aufs Meer hinaus: als wären sie zwei Spaziergänger, die sich zufällig getroffen haben, die nichts voneinander wissen, weder Namen noch Beruf, weder Zukunft noch Vergangenheit. Solange sie den Mann neben sich nur aus dem Augenwinkel sah, dachte Siri, konnte er alles sein. Er konnte ein Urlauber sein oder ein Vogelschutzbeauftragter auf den Spuren einer seltenen Entenart. Ein Maler auf der Suche nach dem richtigen Licht, ein Schriftsteller auf der Suche nach den richtigen Worten …
Und sie – auch sie konnte alles sein, alles, was sie wollte …
»Ich weiß nicht, wie die Dinge weitergehen«, sagte Lenz und ließ die Illusion zerplatzen. Er war er und sie war sie: der Totengräber und die Fensterfrau.
»Bis jetzt befanden sich die Dinge in einem … Fließgleichgewicht. Und jetzt … jetzt scheint sich alles zu ändern. Winfried … ich werde nach Hause gehen und ihm ins Bett helfen, und morgen werde ich ihm aus dem Bett helfen, und daran wird sich vielleicht nie mehr etwas ändern … oder doch, natürlich, eines Tages wird er sterben, und ich werde an seine Stelle treten. Ich werde den Fernseher anmachen, wenn ich zu Hause bin, und ausmachen, wenn ich gehe. Ich werde aufhören, die Gedanken zu denken, die ich denke …«
»Unsinn«, sagte Siri.
»Ja, Unsinn.« Er nickte. »Es wird vielleicht nicht so weit kommen. Das Gleichgewicht im Dorf … ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können … es kippt. Es wird kippen, ehe Winfried überhaupt stirbt.«
»Wie meinen Sie das, das Gleichgewicht kippt?«
» Sie bringen es zum Kippen«, sagte er und sah sie an. Er stand sehr nah bei ihr. Seine Augen waren noch grauer, als sie gedacht hatte.
»Ich?«, fragte sie, und ihre Stimme war auf einmal sehr klein.
Er nickte. »Es ist schon einmal gekippt. Das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse. Das, was brodelt … es brodelt nur unter der Oberfläche. Aber wenn alles kippt, wird das Schlimmste passieren. Damals, als es kippte … das war, als Iris kam. Und es kippte in die helle, die gute Richtung. Alle mochten Iris … alle … und hinterher, als sie nicht mehr da war, ist es zurückgekippt … langsam … aber es hat sich gefangen, ich … keiner hat mir …« Er flüsterte
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