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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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jetzt. »Ich weiß ja selbst nicht, was damals passiert ist. Ich weiß es nicht!« Er sah sie nicht länger an, er sah wieder aufs Wasser.
    Und seine Hände umklammerten das Geländer mit aller Kraft. »Und jetzt sind Sie hier, und die Leute mögen Sie «, fuhr er fort, leiser. »Sie, den Farbtupfen. Den Lichtfleck. Aber Sie stehen in der Kirche auf und helfen mir, Winfried hinauszuschleifen, und die Leute sehen das. Und sie finden es nicht gut, natürlich, sie können das nicht gut finden. Wenn wir zurückgehen, vorbei an den Datschen, vorbei an den Leuten, die ihre Hunde ausführen … auch die Quads werden uns wieder begegnen …«
    »Sie haben ja Angst«, sagte Siri.
    »Natürlich«, sagte er.
    Sie legte ihre Hände auf das Geländer, neben seine, nur, um irgendetwas zu tun.
    »Angst …«, sagte sie, »vor den Leuten.«
    »Ja. Nein. Ich habe Angst vor dem, was geschieht. Vielleicht habe ich Angst vor mir selbst. Ich kann es Ihnen nicht sagen, weil ich zu wenig über mich weiß.«
    Ihre Hände waren so winzig neben seinen! Sie wusste, dass sie jetzt fragen musste: Was wissen Sie denn nicht über sich? Erinnern Sie sich wirklich nicht daran, was passiert ist? Mit dem Mädchen? Iris? Aber sie fragte nicht. Wie seltsam: Stattdessen dachte sie über seine Hände nach. Er hatte eine Narbe an der rechten Hand, zwischen Daumen und Zeigefinger. Und eine Menge frischer, verschorfter Kratzer.
    »Hatten Sie eine Auseinandersetzung mit einer Katze?«, sagte sie.
    Er betrachtete seine Hand. »Nein. Mit einem von Aljoschas Kaninchen. Es hatte sich in unser Küche verirrt.«
    »Ich … nehme an, Sie haben es in Richtung des … Suppentopfes … eskortiert?«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich bringe keine Kaninchen um. Ich bringe überhaupt keine Tiere um. Noch nicht einmal Spinnen. Iris würde mich hassen, wenn ich es täte. Ich habe das Kaninchen hinausgetragen. Es … es war jung, und es hatte ganz weiches Fell … weiß, es war weiß … es fühlte sich sehr hilflos an.«
    Seine Stimme war weich geworden wie das Fell des Kaninchens, seine Worte, dachte Siri, waren die eines Kindes. Sie sah ihn von der Seite an, und er sah noch immer auf seine Hand. Er lächelte, die Erinnerung an das Hilflose in den grauen Augen. Sie sah ihn in der dunklen Küche stehen, in der alles mit einer dünnen Schicht von Staub und Fett überzogen war, sie sah ihn dort stehen, mit dem Kopf beinahe an die Decke stoßend, den grauen Riesen mit dem winzigen weißen Kaninchen im Arm.
    »Das Kaninchen war dumm«, sagte er. »Es ist im Vorgarten sitzen geblieben. Winfried hat ihm zwei Stunden später das Genick gebrochen. Wenn Aljoscha die Viecher frei rumlaufen lässt, sagt er, muss er sich nicht wundern, wenn es anderswo Kaninchenbraten gibt. Ich … ich hab ihm nicht geholfen, es abzuziehen. Ich dachte die ganze Zeit daran, wie weich es war.«
    Etwas in Siri zog sich schmerzhaft zusammen, als er das sagte.
    Sie holte tief Luft – und dann streckte sie ihre Hand aus und legte sie auf seine, die kaninchenzerkratzte, ganz behutsam, als würde sie ihn nicht wirklich berühren, wenn sie es nur vorsichtig genug tat.
    Warum tue ich das?, dachte sie. Versuche ich, einen erwachsenen Mann, der vielleicht ein Mörder ist, über den Verlust eines ihm fremden Kaninchens hinwegzutrösten?
    Aber die Hand blieb liegen, und sie spürte, wie eine Veränderung ihn durchlief, etwas, das sich seltsam elektrisch anfühlte.
    »Sie haben beinahe so kleine Hände wie Iris«, flüsterte er. »Sie wollten doch etwas über Iris hören. Sie wissen, dass ich mit ihr spreche. Und Sie wissen, dass das nicht sein kann. Sie … Sie haben die gleichen Augen wie Iris. Das reicht, um das Gleichgewicht zu gefährden. Das Gleichgewicht im Dorf.«
    Jetzt sah er sie wieder an, und sie sah, dass ihn das all seinen Mut kostete. Er war nicht mehr als ein Kind an der Schwelle zum Erwachsenwerden, ein kleiner Junge, unsicher, was diese Frauenhand auf seiner zu bedeuten hatte. Nimm sie weg, Siri , sagte eine warnende Stimme in ihrem Kopf. Nimm die Hand weg. Es ist keine gute Idee, jemanden durcheinanderzubringen, der so unberechenbar ist. Aber ein unerklärlicher Magnetismus hielt ihre Hand auf seiner fest.
    »Ich? Ich habe die gleichen Augen wie Iris?«
    Er nickte langsam.
    Und dann machte er zwei Schritte rückwärts, kletterte auf das Geländer und balancierte von Siri fort, die Arme in der grauen Jacke ausgebreitet, dicht am Abgrund entlang.
    Sie schloss die Augen und öffnete sie

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