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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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wieder, aber das Bild blieb dasselbe: ein zwei Meter großer Mann in grauer Arbeitskleidung, der mit ausgebreiteten Armen auf einem Geländer balancierte, in seinen ergrauenden Haaren den Wind, unter sich zweihundert Meter Steilküste.
    Siri sah die Felsen dort unten und die toten Baumstämme, denen der Aufprall das Genick gebrochen hatte wie Winfried dem Kaninchen.
    Dann löste sich ihre Schreckstarre. Sie rannte.
    »Komm da runter!«, schrie sie. »Lenz Fuhrmann, komm da runter! Wem willst du etwas beweisen? Und was?«
    In dem Augenblick, in dem sie schrie, verlor er das Gleichgewicht.
    Das Gleichgewicht des Dorfs kippt, dachte sie, das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse … Sie sah ihn mit den Armen rudern und schlug die Hände vors Gesicht. Sie hatte das schon als Kind getan, wenn ein Teller herunterfiel, wenn auf der Straße ein Unfall passierte, wenn andere Leute sich anschrien – sie hatte stets die Hände vors Gesicht geschlagen, um das Schreckliche nicht zu sehen. Sekunden später riss das Gewicht eines fallenden Körpers sie zu Boden.
    »Verdammt«, sagte Lenz Fuhrmann, rollte herum und wischte sich den Sand aus dem Gesicht. Siri rappelte sich hoch.
    »Es … hätte die andere Seite sein können!«, flüsterte sie. »Wenn du zur anderen Seite gefallen wärst … du bist ja wahnsinnig!«
    »Schön, dass das jetzt zu dir durchgedrungen ist«, sagte er, und Siri fragte sich, wann er begonnen hatte, sie zu duzen. Er sah einen Moment lang aufs Meer hinaus. »Wir balancieren oft hier«, sagte er dann, leise. »Iris und ich. Es ist nie einer von uns gefallen.«
    »Iris kann nicht fallen«, sagte Siri bitter. »Sie ist tot. Sie scheint aber nicht besonders gut auf dich aufzupassen.«
    Er stand auf und streckte eine Hand aus, um sie auf die Füße zu ziehen. Einen Moment lang blieben sie so stehen, nebeneinander, ihre Hand noch in seiner.
    »Ich …«, begann Lenz.
    Aber ehe er mehr sagen konnte, bellte ein Hund, sehr nah, und sie fuhren beide herum. Auf dem Weg war das Pärchen aufgetaucht, das Pärchen mit den Tapirhunden. Lenz ließ Siris Hand los.
    »Gehen wir zurück«, sagte er schroff.
    Als Siri an diesem Tag nach Hause kam, lag hinter der Tür ein Zettel.
    Siri hob ihn auf und sah die Schrift an, ohne die Worte zu lesen. Es war eine Nachricht von jemandem, der gerne Zettel irgendwo druntersteckte – unter die Scheibenwischer alter Autos, unter Türen durch …
    »Gehen Sie«, flüsterte sie, »ja, ich weiß. Ich bin noch hier. Und ich bleibe.« Sie hob die Hand mit dem Zettel, um ihn zu zerreißen – doch ihre Augen hakten sich an den ungelenken Buchstaben fest, und die Worte sickerten dunkel und klebrig in ihr Bewusstsein.
     
    komm sie heut zum hafen. ich muss mit ihn reden. es is besser wenn jemand ihn die ganze geschichte erzählt. Aljoscha Kovalski.
    (ich bin der fischer den sie am steg getroffn han, der mit der schönen silbernen kette am arm.)
    Sie fluchte, zerknüllte den Zettel und warf ihn in den Papierkorb. Sie hatte genug von den Warnungen des Dorfes. Es war ein lächerliches Spiel. Sie machten sich alle nur interessant.
    »Eigentlich war heute ein schöner Tag«, sagte sie später in den Hörer des roten Telefons. »Ich bin spazieren gegangen, an der Steilküste … mit Lenz Fuhrmann. Weißt du noch? Der Totengräber. Zwischendurch war es, als würde man sich mit einem Kind unterhalten. Und dann wieder … ach, egal.«
    Sie ließ ihren Blick über die Zeichenblätter gleiten, die auf dem Boden verstreut lagen. Draußen brandete die Nacht an die Kellerfenster.
    »Wie? Doch. Ich habe die Skizze zum vierten Fenster fast fertig, ich habe den ganzen Nachmittag daran gearbeitet. Die Totenerweckung. Der Tote sieht aus wie der alte Fuhrmann. Er liegt auch gar nicht in einem Sarg auf meinem Bild … er liegt im Mittelgang einer Kirche. Seine Beine sind ein bisschen zu dünn geraten … nein, warte, vielleicht ist das gar nicht der alte Fuhrmann.« Sie klemmte den Hörer zwischen Schulter und Kopf und hob den Bleistift vom Boden auf. Dann fügte sie ihrer Skizze ein paar Striche hinzu. »Was? Ja, ich bin noch da. Ich habe gerade … es ist jetzt besser. Es ist ein Kind. Ein Mädchen. Das Mädchen wird auferweckt. Das da seitlich sind auch gar keine Kirchenbänke, es ist Schilf. Die Leute sehen aus dem Schilf heraus zu. Und das Mädchen … liegt in einem Boot.«
    Sie lauschte ins Telefon und malte währenddessen mehr weiche Bleistiftlinien.
    »Natürlich«, sagte sie schließlich.

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