Friedhofskind (German Edition)
»Sobald ich kann. Du wusstest, dass es dauern würde … bis der Sommer vorüber ist. Das habe ich immer gesagt. Ich muss die Gläser bestellen und sie zuschneiden … grüßt du meinem Vater von mir, falls du ihn siehst? Wie bitte? Du könntest … was ? Herkommen? « Sie legte den Bleistift hin. Schluckte. Malte sich aus, wie es wäre, zu zweit auf dem Bett zu sitzen, dicht beieinander, ganz vertraut, und Tee aus den weißen Tassen mit den blauen Streublümchen zu trinken. Geborgen zu sein. Vollkommen sicher.
Dann dachte sie an Winfrieds dunkle Küche, in der seit Jahrzehnten die Schatten wohnten – zusammen mit einem Kind. Dem Friedhofskind.
»Nein«, sagte sie. »Komm nicht. Ich muss erst ein paar Dinge herausfinden. Alleine. Ich muss wissen, was mit diesem Mädchen passiert ist, Iris … du musst dir keine Sorgen machen, wirklich nicht. Ich … natürlich«, flüsterte sie in den Hörer. »Ich liebe dich auch.«
Sie legte auf, löschte das Licht und legte sich mit einer Tafel schwarzer Schokolade auf das schmale Ferienwohnungsbett. Allein. Sie wickelte die Schokoladentafel nicht aus, hielt sie nur fest, bis sie zwischen ihren Fingern schmolz.
Als sie die Augen schloss, sah sie Lenz Fuhrmann mit einem weißen Kaninchen im Arm über das Geländer der Steilküste balancieren. Sie spürte seine Hand noch in ihrer. Es war, als balancierte sie mit ihm dort.
7
»Warum hat sie das getan?«, flüsterte er. »Warum hat sie ihre Hand auf meine gelegt?«
Iris zog die Beine an, legte den Kopf auf die Knie und sah ihn an, nachdenklich. Sie saß neben ihm auf dem Bett in der winzigen Schlafkammer, in dem Haus ohne Licht. Durch die winzige Dachgaube fielen nur wenige Sonnenstrahlen herein.
Der alte Kaminski hatte die Gaube irgendwann eingebaut, Winfried hatte es Lenz erzählt.
Wenn Lenz an den alten Kaminski dachte, dachte er an ihn als Toten. Er lernte sie alle erst wirklich kennen, wenn sie in einer Holzkiste lagen. Dann waren sie wehrlos und wie Neugeborene.
Der alte Kaminski hatte die Hände nicht falten wollen, das wusste er noch, sie waren immer wieder auseinandergeglitten. Es gab über sie alle solche Geschichten. Sie waren eine ganze Armee, die dort auf dem Friedhof; ein Schattendorf, das keiner sehen wollte. Dieleute hatten Angst vor diesem Schattendorf; Angst, dass die Schatten Gestalt annehmen könnten, um dem Friedhofskind zu folgen wie die Kinder dem Rattenfänger von Hameln.
»Warum hat sie ihre Hand auf deine gelegt?«, wiederholte Iris. »Hm. Vielleicht wollte sie wissen, um wie viel deine Hand größer ist. Oder … sie mag dich.«
Lenz schüttelte widerwillig den Kopf, stand auf und trat ans Fenster.
»Die Kaninchen nehmen überhand«, sagte er. »Heute Morgen waren vier davon im Vorgarten.«
»Magst du sie denn?«
Er drehte sich um. Iris saß immer noch auf dem Bett, den Kopf auf den Knien.
»Es könnte der Beginn eines Märchens sein«, sagte sie. »Im Märchen mögen sich auch immer zwei. Wie in deinem alten Märchenbuch. Das schönste Bild war das von Aschenputtel mit dem Prinzen … Annelie hat gesagt, du wolltest früher immer sein wie Aschenputtel. Weil die auch auf dem Friedhof war, bei ihrer Mutter. Und dann kam der weiße Zaubervogel und warf mit Ballkleidern … und irgendwas war mit dir und einem Schultheaterstück …«
»Ich wollte Aschenputtel eigentlich für eine Weile vergessen«, sagte Lenz.
Der Himmel draußen war schneidend blau. Weiße Wolkenstreifen zogen hindurch wie Buchstaben, die jemand ins Blau gemeißelt hatte. Vielleicht war der Himmel ein Grabstein.
»Es war … schön, ihre Hand zu fühlen«, flüsterte Lenz. »Ich bin vom Geländer gefallen und habe sie mitgerissen … und dann habe ich ihr hochgeholfen. Ihre Hand war warm wie ein eigenes Lebewesen – wie das Kaninchen, das ich aus der Küche getragen habe. Sie hat sich Sorgen gemacht, dass ich die Klippen hinunterfalle. Und für einen Moment dachte ich, das wäre vielleicht das Beste.«
»Das Beste wäre«, sagte Iris, »wenn du mal wieder mit der Fensterfrau reden würdest. Sonst vergisst sie nämlich, dass sie dir auf der Steilküste schon so nahe war. Es ist jetzt zwei Wochen her.«
Lenz zuckte die Schultern. »Wir haben angefangen uns zu duzen, oben auf der Steilküste, und seitdem weiß ich nicht mehr, was ich zu ihr sagen soll. Und die Leute warnen sie vor mir, andauernd. Sie sagen …« Er drehte sich um und sah Iris an. Ihre Augen waren blau wie das Himmelsgrab, jedoch ohne
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