Friedhofskind (German Edition)
Inschrift.
»Iris. Habe ich etwas damit zu tun, dass du damals mit dem Boot gekentert bist? Ich erinnere mich nicht. Wirklich nicht.«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich mich auch nicht. Ich erinnere mich nur, wie ich in das Ruderboot gestiegen bin, das meines Vaters, das er am Steg gelassen hatte. Und das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich unter dem Apfelbaum stehe, der seine Blüten verliert, und es ist Frühling.«
»Dazwischen … gibt es nichts?«
Sie schüttelte den Kopf, und ihre hellen Locken flogen um sie wie ein Heiligenschein. »Nein.«
Er seufzte. »Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, wie ich gewinkt habe. Als das Auto abfuhr. Nach Berlin. Nachmittags, glaube ich. Am nächsten Morgen haben sie dich gefunden, hier, im Wasser. Du hattest mein Hemd an. Und dann … Iris … dann war da die Geschichte mit der Frau, die später kam. Weißt du noch? Ich war sechzehn, glaube ich … sie denken, ich hätte auch damit etwas zu tun gehabt. Diese Frau … sie hat gelächelt, als wir sie begraben haben. Winfried hat gesagt, ich soll zu Hause bleiben, aber ich war da, sie haben mich nur nicht gesehen. Ich saß auf dem Dach der Kirche.«
»Das weiß ich, Lenz. Ich saß neben dir.«
»Am Abend hat Winfried eine ganze Flasche Klaren getrunken, was er sonst nie tut, und dann ist er eingeschlafen, mit dem Kopf auf dem Tisch. Am Tag danach hatte er den Schlaganfall.« Lenz ballte die Faust und hieb plötzlich gegen die Dachschräge. »Und ich erinnere mich nicht, was passiert ist! Warum erinnere ich mich nicht? Ich wollte es nie, aber jetzt …«
Er hieb noch einmal gegen die Wand, dann stand er still und starrte seine Faust an.
»Manchmal«, flüsterte er, »möchte ich dieses ganze Haus kurz und klein schlagen … die Dunkelheit loswerden. Iris, ich muss wissen, was passiert ist. Ich muss wissen, ob ich gefährlich für die Fensterfrau bin. Ich –«
Er drehte sich zu ihr um. Sie saß nicht mehr auf seinem Bett.
»Junge!«, schrie Winfried von unten. »Junge, wo steckst du?« Lenz hörte etwas poltern, etwas umfallen. »Mach, dass du hier runterkommst!«, brüllte Winfried, seine Stimme schwankend zwischen Wut und Panik. »Ich muss zur Toilette, und du weißt genau, dass ich es allein nicht schaffe! Beeil dich!«
»Ich komme«, sagte Lenz.
Er ging die Treppe sehr langsam hinunter. Ich bin grausam, dachte er. Kinder sind grausam. Ich hasse Winfried, aber mich selbst hasse ich mehr.
Er sah sie telefonieren. Er stand in Frau Hartwigs Garten, in den Schatten, am Abend, und sah durch das Kellerfenster hinein, und da saß sie auf dem schmalen Gästebett und sprach in den Hörer von Frau Hartwigs altem rotem Telefon. Sie sprach jeden Abend in diesen Hörer.
Auf dem Boden lagen ihre Skizzen, Kirchenfenster ohne Kirche. Wenn er ihr kurzes braunes Haar ansah, dachte er an das Fell des Kaninchens. Er hätte gern einmal durch dieses Haar gestrichen, nur, um herauszufinden, ob es ähnlich weich war.
Das Kaninchen war tot.
Manchmal sah sie von dem alten Telefon auf, doch sie sah ihn nie, er stand im Dunkeln, und sie saß im Licht, zwischen all ihren schönen Dingen. Er kannte ihr Teeservice und die Muschelsammlung inzwischen gut, er kannte ihre Bettwäsche, und er wusste, dass sie jede Woche zweimal den Strauß in der Vase auf dem Tisch erneuerte. Am Haken an der Tür hing ihr geblümter Regenmantel. Um den Hals trug sie, auch drinnen, einen braunen Wollschal – einen Männerschal. Manchmal steckte sie ihre Nase in die Wolle, um daran zu riechen.
»Siri«, sagte er, sehr leise und nur zu sich selbst. Niemand antwortete ihm; vielleicht, weil es keine Frage war.
Tagsüber wagte er es nicht, mehr zu tun, als zu nicken, wenn er sie auf der Straße sah. Er sah sie selten. Sie kam nicht mehr, um ihre Blätter auf der Bank auszubreiten und zu zeichnen, vielleicht waren die Fenster über dieses Stadium hinaus.
Ein paarmal hatte sie nach Winfried gefragt. »Wie geht es dem alten Fuhrmann? Geht es ihm besser?«
Und er hatte Nein gesagt, denn es ging ihm nicht besser. Er humpelte jetzt auf zwei Krücken durch die Gegend. Der Mann von Frau Henning hatte sich einen seiner Stützstöcke für junge Obstbäume abkaufen lassen, Lenz hatte einen Quergriff daran genagelt. Winfrieds Bein war offenbar nicht gebrochen, aber die Schmerzen im Knie quälten ihn, und er zog bei jedem Schritt eine Grimasse. Er weigerte sich nach wie vor, sich zum Arzt bringen zu lassen.
Sein gutes Auge blieb blind. Winfrieds Welt
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