Friedhofskind (German Edition)
war lichtlos und schwarz geworden, die Dunkelheit des Hauses potenzierte sich in seinem Blick. Tagsüber blieb Lenz bei ihm. Aber jeden Abend, wenn er Winfrieds zerstörten Körper ins Bett gehievt hatte, stellte er sich in Frau Hartwigs Garten und sah durch das Kellerfenster.
An diesem Abend hörte er Stimmen von der Vordertür. Er blieb ganz still stehen. Frau Hartwig sprach am Zaun mit jemandem.
»Da drüben?«, fragte eine Männerstimme. »Ich sehe nichts.«
»Vielleicht ist auch nichts da«, sagte Frau Hartwig. »Aber wer weiß? Neulich war ein Zettel da. Schon zwei Wochen her … Jemand hat ihn unter der Tür durchgesteckt. Man konnte ihn nicht zurückziehen. Na, ich frage Sie: Wer steckt Zettel unter der Tür einer Ferienwohnung durch? Ein ehrlicher Mensch könnte seinen Brief in den Briefkasten werfen und draufschreiben, dass er für Frau Pechten ist.«
»Ich war es nicht, mit dem Zettel, wenn Sie das meinen.« Die Stimme lachte, tief und voll. Werter, dachte Lenz, das war Werter. Er führte die Kfz-Werkstatt, und niemand wusste, ob Werter sein Vor- oder Nachname war oder möglicherweise beides.
»Jedenfalls«, flüsterte Frau Hartwig, »glaube ich, dass da jemand steht. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie nachsehen würden.«
»Wenn es Sie beruhigt«, sagte Werter. Lenz hörte ein Lächeln in seinen Worten.
Der Abend war lau. Die Häuser lagen friedlich unter dem Himmel. Siri sprach in den Hörer.
Lenz hörte Werters Schritte über das Gras kommen. Er schloss die Augen und bemühte sich, noch stiller zu stehen als still – wie ein Kind beim Versteckspiel.
Dann spürte er eine Hand auf der Schulter.
»Was –«, begann Werter leise.
»Ich –«, sagte Lenz und blinzelte.
»Du bist ja nicht zu retten«, sagte Werter.
Lenz sah seine vor Langem silbrig gewordenen kurzen Locken trotz der Dunkelheit; und er spürte das Gewicht seiner Hand. Werter war groß und drahtig, um die sechzig; niemand, den man nicht ernst nahm. Er führte die Werkstatt seit dreißig Jahren, der junge Kaminski lebte sicher in seinem Schatten, zwischen Hebebühnen und Schraubenschlüsseln.
Lenz ließ sich von Werters schwerer Hand zum Gartentor führen, wo es heller war. Er sah den Schreck in Frau Hartwigs Augen.
»Das Friedhofskind?«, fragte sie. »Hier?«
Werter schob ihn ins Licht der Straßenlaterne neben dem Tor. »Wir würden es begrüßen«, sagte er langsam und sehr deutlich, »wenn du es dir verkneifen könntest, vor den Fenstern weiblicher Touristen herumzulungern. Bei Karin stehst du auch gerne am Zaun und guckst, was?«
»Frau Pechten«, erklärte Frau Hartwig mit gezuckerter Liebenswürdigkeit, »telefoniert übrigens um die Zeit mit ihrem Verlobten. Vielleicht sollte dieser Verlobte mal auftauchen und ein paar Dinge klarstellen?«
»Ich bringe ihn nach Hause«, sagte Werter und zog Lenz am Arm mit sich auf die Straße, Lenz versuchte, seine Hand abzuschütteln, auf einmal entstand etwas wie ein Gerangel. Werters Griff wurde noch fester, Lenz wand sich, Werter fluchte – und sie stürzten beide zu Boden. Als Lenz sich aufrichtete, kniete Werter auf ihm und drückte seine Schultern nach unten.
»Persönlich«, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen, sodass Frau Hartwig es nicht hörte, »persönlich hab ich keine Angst vor dir, merk dir das. Ich weiß, die Hartwig hat Angst, weil sie glaubt, du könntest ihren toten Mann rufen. Sie haben alle Angst. Ich nicht. Hör auf, irgendwelchen Mädchen nachzusteigen, kapiert?«
Dann holte er aus, Lenz sah seine Faust auf sich zurasen und versuchte, den Kopf zur Seite zu drehen, doch er reagierte zu spät. Ein jäher Schmerz durchzuckte ihn, und er schmeckte warmes Blut. Werter holte noch einmal aus, schlug noch einmal zu und wischte dann mit seinem Ärmel selbst das Blut aus Lenz Gesicht, angewidert.
»So«, sagte er leise. »Dann merkst du es dir wenigstens. Und was die Unfälle betrifft – Kaminski. Und der Umbrich. Mir ist schon klar, wer da nachgeholfen hat. Die Toten waren es nicht. Pass auf, was du tust. Ich lasse dich laufen, solange ich nichts beweisen kann, aber manchmal denke ich, du gehörst hinter Gitter.«
Dann zog er Lenz auf die Beine.
»Geh jetzt«, sagte er, »und lass dich nicht mehr in anderer Leute Gärten erwischen.«
Die Verandatür war offen, als hätte man auf ihn gewartet. Der Garten war ultramarinblau, die Singvögel schliefen. Unten lagen die Nebel über dem Land wie ein weißes Meer. Einen Moment blieb Lenz in der Tür
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