Friedhofskind (German Edition)
hohen Baum klettern. Lass uns spielen, dass wir Seeräuber sind …«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt. Ich muss Aljoscha finden.«
»Dann geh«, sagte Iris und rutschte von seinem Arm. »Geh ihn suchen. Aber vergiss mich nicht – bei deiner Sucherei nach irgendeiner Wahrheit über mich und dich.«
Winfried starrte mit leerem Blick an die Decke, als er zurückkam.
»Wird auch Zeit, Junge«, knurrte er. »Ich hab versucht, allein ins Bad zu kommen, aber das Bein macht es immer noch nicht. Hab wieder aufgegeben.«
Lenz half ihm hoch und wechselte das nasse Bettzeug schweigend. Er schwieg auch, als er mit einem alten grauen Waschlappen Winfrieds zu früh welk gewordene Haut säuberte, er schwieg, als Winfried über Ärmel und Hosenbeine fluchte. Er schwieg bis zum zerfurchten Küchentisch, auf dem die Kaffeetassen an bestimmte Stellen gestellt werden mussten, um nicht umzufallen.
Er trank seinen Kaffee sehr sorgfältig. Dann sagte er: »Aljoscha ist nicht da, Winfried. Du wirst es mir also selbst erzählen müssen.«
»Was? Was soll ich dir erzählen?«, knurrte Winfried, die Hände um seine Kaffeetasse gelegt, als würde er plötzlich, nach all den Jahren, in seinem eigenen Haus frieren.
»Was an dem Tag passiert ist, als Iris ertrank.«
Winfried fuhr mit der flachen Hand über die Krater der Tischplatte. »Ich muss hier raus. Bring mich raus.«
»Natürlich«, antwortete Lenz. »Ich bringe dich raus. Ins Krankenhaus.«
Winfried lachte auf und machte dabei eine unkontrollierte Handbewegung, die die Kaffeetasse kippen ließ. Kaffee versickerte wie Tinte zwischen den Buchstaben neben den Gräbern. Oder wie Blut. »Wie willst du mich da überhaupt hinbringen? Auf dem Gepäckträger von deinem Fahrrad? Junge, du hast noch nicht mal eine Fahrerlaubnis.«
»Notarztwagen«, sagte Lenz knapp.
»Vergiss es.« Winfried schüttelte den Kopf. »Ich will raus in die Sonne. Bring mich zum Friedhof! Ich will noch mal auf diesen Friedhof, bevor ich da unter der Erde verwese.« Auf einmal hieb er mit der Faust auf den Tisch. »Man wird ja wahnsinnig hier drin! Nichts als der verdammte beschissene Fernseher …«
»Ich bringe dich raus, Winfried«, sagte Lenz mit erzwungener Ruhe. »Wenn du mir erzählst, was ich wissen will.«
»Verflucht.« Winfried seufzte. »Schön. Aber erst, wenn wir da sind. In der Sonne, bei den Blumen. Bei Lottes Grab. Dann erzähl ich. Sonst bringst du mich am Ende irgendwo anders hin und lässt mich da sitzen, bis ich verrecke …«
»Natürlich«, sagte Lenz, leise und sehr böse jetzt. »Ich lasse dich irgendwo verrecken. Das hätte ich schon lange tun können. Dieses Haus ist ein ebenso gutes Irgendwo wie alle anderen Irgendwos. Ich müsste hier nicht bleiben. Keine Sekunde.«
»Ach ja?«, zischte Winfried. »Und wohin würdest du gehen, Junge? Du kannst nirgendwohin. Das hier ist der einzige Ort, an dem du funktionierst.«
Lenz stand auf, ohne ihn anzusehen. »Gehen wir.«
† † †
Der Friedhof war ein Garten, ein überschäumender Garten voll blühender Farben. Der Rasen war übersät mit sattgelbem Löwenzahn, weiße Gänseblümchen zogen sich durchs Grasgrün wie lebende Ketten, geknüpft von einem unsichtbaren Elfenkind – Siri fand sogar einen Flecken mit Schlüsselblumen. Über den Gräbern hingen violette Blumenglocken an ihren Stielen und winzige Schaumkrautkugeln, die blauen Köpfchen der Scylla bedeckten den Boden unter dem Apfelbaum, und neben den Steinplatten entrollten sich hellgrüne Büschel von Farn. Es war Juni, und der Juni war der April der Gegend, ein Monat voller Wechsel, voller Sonne und Regen, gut für alles, was wuchs.
»Nein«, flüsterte Siri. »Nein, das waren nicht Sonne und Regen. Das war er. Das Friedhofskind. Seine großen, groben, erdigen Hände. Sie haben den Garten geschaffen.«
Sie trat leise auf, als könnte sie die Farben zerstören. In der Ferne leuchtete grünblau das Meer, auf dem weiße Gischtblüten sprossen.
»Wenn ich irgendwann sterbe«, wisperte sie, »möchte ich hier begraben werden.«
Und dann erschrak sie. Es gab zwei Personen, die das gesagt hatten, so oder ähnlich, und die hier begraben worden waren – lange vor ihrer Zeit.
»Ach was«, sagte sie zu sich selbst. »Das waren nur Zufälle …«
Sie drehte den Kopf, um Lenz Fuhrmann zwischen den Blüten und Ranken zu finden, doch er war nicht da.
Sie hatte lange nicht mehr mit ihm gesprochen. Ihre Kommunikationsversuche, ihre Fragen nach dem alten
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