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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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An einem der Handgelenke glänzte etwas Silbriges: eine Kette, die zweimal um den unnatürlich dicken, glasigen Arm gewickelt war.
    »Aljoscha«, flüsterte Siri.
    Dann ging sie langsam rückwärts, aus dem Wasser heraus.
    Sie dachte, sie müsste sich übergeben, aber ihr Körper schien diese Funktion vorübergehend vergessen zu haben, so wie auch alle anderen Funktionen bis auf ein unkontrolliertes Zittern.
    Aljoscha hatte ihr etwas erzählen wollen. Etwas, das er für die Wahrheit gehalten hatte.
    Die Datschen lagen still und schlafend, sie schliefen einen wohl-verdienten Fünf-Uhr-morgens-Schlaf, und eine, die ehemalige Datsche der Familie Weiß, schlief für immer. Die Hecken und die Beete schliefen, die Schaukel neben den Gärten schlief, kein kleiner Junge flog dort dem Himmel entgegen. Das Tor des größten Gartens stand als einziges offen. Ein sorgsam gepflegter Weg führte über den leicht abschüssigen Rasen hinauf zur Tür, vor der ein Kinderwagen stand.
    Siri fand keine Klingel und hämmerte mit der Faust gegen die Tür.
    Dann sah sie sich um, als könnte da jemand sein, der ihr gefolgt war. Da war niemand.
    Der Mann, der ihr schließlich öffnete, sah aus, als schliefe er noch. Der Direktor. In Anglerstiefeln hatte er besser ausgesehen als in einem zerknitterten Schlafanzug.
    »Ein Telefon«, sagte Siri, noch ehe er etwas fragen konnte. »Ich brauche ein Telefon. Es ist etwas passiert. Wir müssen jemanden anrufen. Ich weiß nicht, wen. Die Polizei.«
    Der Direktor schüttelte langsam den Kopf und ließ sie herein. Drinnen war es warm und behaglich. Siri merkte, dass sie noch immer zitterte.
    »Das Telefon ist … hier«, sagte der Direktor und reichte es ihr. »Aber …? Ach, hallo Lena.«
    »Was ist denn los?«, fragte eine jüngere Stimme, und in der Tür tauchte die Frau auf, die Siri schon einmal gesehen hatte. Lena also. Ihr schwarz gefärbter Pagenkopf wippte so adrett auf und ab wie beim letzten Mal, und auch ihr Schlafanzug, weiß mit schmalen altrosa Streifen, war weiblich und vorteilhaft. Es war Siri unverständlich, dass jemand sich Gedanken darüber machte, wie er beim Schlafen aussah.
    Spätestens, wenn man mehrere Tage im Wasser gelegen hatte, dachte sie, war es vorbei mit der Adrettheit, Schlafanzug hin oder her.
    Sie merkte, dass der Boden ein wenig schwankte, und streckte die Hände aus, um sich irgendwo abzustützen, doch es gab kein Irgendwo. Es war der Direktor, der sie auffing, ehe sie fiel.
    »Setzen Sie sich«, sagte er und führte sie zu einem Sessel, und sie war dankbar, nicht mehr stehen zu müssen. Sie schloss die Augen für einen Moment und konzentrierte sich darauf, einen geraden und sinnvollen Satz in ihrem Kopf zu formen. Schließlich öffnete sie die Augen wieder, sah fest auf einen imaginären Punkt zwischen den Augen des Direktors und sagte:
    »Aljoscha ist tot. Er liegt am Hafen. Im Schilf. Er muss schon länger tot sein. Ich war spazieren … man muss der Polizei sagen, dass ich beim Spazierengehen einen Toten gefunden habe.«
    Der Direktor wählte und sagte irgendetwas in den Hörer, er sagte möglicherweise auch noch etwas zu Siri. Siri hörte nicht zu, sie saß nur da. Um sie herum war etwas wie Nebel. Irgendwann drückte ihr jemand eine Tasse mit heißem Tee in die Hand. Sie sah auf, dankbar, und blickte ins Gesicht der jungen Frau. Sie trug jetzt einen hellblauen Strickpullover und ein weißes Seidenhalstuch.
    »Sie sind so hübsch«, murmelte Siri, aber die junge Frau hörte sie nicht, denn in diesem Moment beschloss ihr Baby, aufzuwachen und zu schreien, und die junge Frau – Lena – verschwand.
    Siri stand auf, mit der Teetasse in der Hand, und trat an das große Fenster. Eigentlich war es kein Fenster, sondern eine Glaswand. Das Wohnzimmer selbst war kahl, es bestand vor allem aus einem Dielenboden, drei Sesseln und einem Plattenspieler mit einem Stapel alter Platten daneben. Doch gerade durch seine Kahlheit wirkte der Raum einladend. Er lud einen ein, die Gedanken auf den Boden zu legen und sie dort herumzuschieben wie ein Puzzle. Man könnte, dachte Siri, stundenlang hier sitzen und durch die Glaswand das Meer betrachten, eine der Platten hören und alles anderes einfach vergessen.
    Sie sah den Direktor draußen durch das Gartentor gehen, den Weg hinab, zum Wasser.
    Er trug jetzt wieder seine Anglergummistiefel. Siri sah, wie er ins Wasser watete und sich über etwas beugte – vermutlich über das, was einmal Aljoscha gewesen war.
    »Ist er

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