Friedhofskind (German Edition)
in seine, und sie waren wirklich warm. »Ich verstehe manches manchmal nicht«, sagte er. »Deine Haare kann man nicht schneiden, aber du hast warme Hände. Das kann doch eigentlich nicht sein.«
»Ist aber so«, sagte Iris und kroch noch tiefer unter die Bettdecke. »Erzähl mir von gestern Nacht.«
»Gestern Nacht?« Er spürte, wie etwas durch ihn hindurchfloss, etwas Unsichtbares wie Strom.
»Gestern Nacht auf dem Friedhof«, sagte sie, drehte sich auf den Bauch, stützte den Kopf in die Hände und sah ihn an. »Mit der Fensterfrau. Du hast sie geküsst, ich weiß das. Erzähl mir, wie es war.«
Er seufzte. »Wie kann man das erzählen? Es war, wie es war. Man kann ja auch eine Farbe nicht erzählen. Ich glaube, sie war ein bisschen enttäuscht. Dass ich keine Übung habe. Wenn man in einer Großstadt lebt, Berlin oder wo, dann küsst man vielleicht jede Woche irgendwelche Leute …«
»Wirklich?«, fragte Iris mit großen Augen. »Ich habe auch mal in Berlin gewohnt. Es ist mir nicht aufgefallen. Meinst du, die rennen da den ganzen Tag lang rum und küssen sich?«
Lenz lachte. »Wer weiß?«
»Liebst du sie?«, fragte Iris. »Diese Fensterfrau?«
Er hielt ihre kleinen Hände ganz fest in seinen. »Nein. Ich liebe nur eine einzige Person auf der Welt, und das bist du.«
»Aber ich bin ein Kind«, sagte Iris. »Und du bist erwachsen. Die Fensterfrau ist auch erwachsen. Erwachsene lieben auf eine andere Weise. Oder?«
Er ließ ihre blonden Kinderlocken durch seine Finger gleiten. Ihr Kinderkörper in dem blauen Kleid war ganz nah unter der Decke und sehr vertraut. Vertraut und sonst nichts.
»Vielleicht«, sagte er.
»Lenz … hast du eigentlich Carla Berg geküsst? Ich habe dich das damals gar nicht gefragt.«
»Ich weiß nicht. Nein. Ich glaube nicht.«
»Aber du wolltest.«
»Kann sein. Auf andere Art. Das hier ist … es ist auch egal, was es ist. Sie geht sowieso am Ende des Sommers, sie hat ein Leben in Berlin und einen Freund oder einen Mann, keine Ahnung.«
»Junge!«, brüllte Winfried aus seinem Schlafzimmer. »Was ist da draußen los? Das waren doch Sirenen wie von der Feuerwehr oder der Polizei oder was! Junge! Komm! Her! Ich will aufstehen! Die rennen alle zum Hafen, ich hör das aus dem off’nen Fenster, die rennen, als gäb’s da was für lau … geh hin und sieh nach!«
Lenz seufzte und schlug die Bettdecke zurück. Iris lag nicht mehr darunter. Er war allein. Er wünschte, sie hätte wenigstens einen Abdruck auf dem Laken hinterlassen.
An diesem Tag war das Dorf leer und der Hafen voller Menschen.
Lenz sah sie schon von Weitem, eine dunkle Menge im bunten Frühling – warum war der Großteil der Menschen in diesem Land dunkel angezogen? Hatten sie das Bedürfnis, sich zu tarnen? Sie standen wie die Häuser, leicht geduckt, eng zusammen. Er näherte sich ihnen von der Seite her, über das Feld, sodass sie ihn nicht kommen sahen.
Da war etwas Gefährliches an der Masse, etwas Raubtierhaftes. Die Masse hatte Angst, und Raubtiere, die Angst haben, sind unberechenbar.
Das Polizeiauto stand direkt vor dem Steg. Es hatte die Sirene und auch das Blaulicht abgeschaltet.
Zwei Polizisten luden etwas in das Auto, das auf einer Bahre lag und mit einer Plane bedeckt war. Lenz blieb stehen. Ein Arm hing unter der Plane hervor, ein weißer aufgedunsener Arm. Darum herum glänzte etwas wie lauter kleine Fischleiber.
»Deshalb die Kaninchen, die überall herumlaufen«, flüsterte er. »Deshalb die Zeitungen im Briefkasten.«
Er spürte kein Mitleid mit Aljoscha. Er fragte sich, ob er langsam gestorben war wie die zu kleinen Fische oder schnell wie die Kaninchen, wenn er ihnen das Genick brach. Wenn die Kaninchen schlau genug waren, waren sie jetzt frei. Niemand würde sie mehr einfangen und ihnen das Fell abziehen. Doch, natürlich. Das ganze Dorf. Die Kaninchen, dachte Lenz, gehörten jetzt allen, es waren mit Aljoschas Tod kommunistische Kaninchen geworden, die letzte Reminiszenz an die Zeit vor ’89.
Iris schob ihre Hand in seine. Da war sie also wieder.
»Guck!«, flüsterte sie. »Da drüben! Guck, wer mit den Polizisten redet!«
»Siri«, flüsterte Lenz zurück.
Aber diesmal hatte er zu laut geflüstert, diesmal wandten sich Köpfe, und das dunkle massige Tier mit den vielen Augen sah zu ihm herüber. Es hatte die Augen des jungen Kaminski, die Augen von Werter, die Augen von zwei Tapirhunden und ihren Besitzern, die Augen einer hysterischen jungen Mutter mit roter
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