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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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fragte Lena plötzlich.
    »Dem Boot?«
    »Ja, einem Boot in einem Sturm …«
    Sie schnappte nach Luft. »War ein kleines Mädchen in dem Boot? In einem Jungenhemd?«
    »Was?« Lena schüttelte verwirrt den wippenden Pagenkopf. »Nein. Die Jünger. Jesus wandelte über das Wasser, hat der Direktor gesagt, und sie hielten ihn für einen Geist und fürchteten sich. Aber er glättete die Wellen für sie und …«
    Lenas Stimme verebbte. Siri folgte ihrem Blick. Draußen kam der Direktor den Weg herauf wie Jesus, der übers Wasser wandelt.
    »Er hatte doch gesagt, dass er heute kommt«, murmelte Lena und stand auf. »Ich wollte was zum Mittagessen machen …«
    Sie hob das Baby hoch, trennte es von Siris Schlüssel und ging zur Tür – und aus irgendeinem Grund wollte sie jetzt, dass Siri ging.
    »Ich könnte den Direktor selbst fragen«, sagte sie.
    »Ja«, sagte Lena. »Ja, tu das. Demnächst.«
    Der Direktor lächelte und nickte und grüßte höflich, als Siri auf dem Gartenweg an ihm vorbeiging. »Schön, dass Sie ab und zu vorbeikommen«, sagte er. »Machen Sie eigentlich Urlaub hier?«
    »Ich –«, sagte Siri.
    »Ich angle viel«, sagte der Direktor. »Sehr schön zum Angeln, die Gegend. Bis demnächst.«
    Die Jünger im Boot fuhren unsichtbar übers Meer und riefen nach Siri.
    Komm, komm, riefen sie, geh zur Steilküste hoch und sieh auf das Wasser hinunter! Vielleicht findest du dort die Gedanken, die du denken musst, um das fünfte Bild zu beginnen. Oder die Gedanken, die du brauchst, um Aljoschas Tod zu verstehen. Oder Herrn Umbrichs Unfall. Oder Iris’ Tod.
    Die Abbruchkante der Steilküste war kreidegelb wie die Sessel in der Datsche. Unten wuchs silberblättriger Sanddorn.
    In Siris Kopf hing das Bild des Direktors fest, der den Gartenweg heraufkam, als käme er nach Hause. Es verwandelte sich in ihrer Erinnerung in das Bild ihres Vaters, aber Siri wollte sein ewig enttäuschtes Gesicht nicht sehen, es war ein Gesicht aus Regenwasser und Weichgummi.
    Sie zwang sich, an das Fenster zu denken. Jesus auf dem See Genezareth. Jesus war über das Wasser gegangen, und die Jünger hatten ihn für einen Geist gehalten. Wer, fragte sich Siri, hielt in diesem Dorf wen für einen Geist?
    Sie war sich noch immer nicht sicher, was sie eigentlich sah, wenn sie etwas sah. Und was Lenz sah. Möwen flogen vor der Sonne, weiß wie die Tauben auf dem Friedhof, kleine magische Vögel, die sich in Märchenbüchern auf Haselbüsche setzten und zaubern konnten.
    Auf Haselbüsche an den Gräbern toter Mütter, dachte Siri. Sie hatte selbst eine, es gab keinen Mangel an toten Müttern auf der Welt, und sie dachte bitter, dass man sie vielleicht vergleichen und tauschen könnte wie Briefmarken.
    Dann stand sie an der Stelle, an der Lenz auf dem Geländer balanciert war. Vor langer, langer Zeit. Vor Sekunden.
    Sie lehnte sich gegen das Geländer und sah hinunter.
    Unten lag eine schmale Bucht, weißsandig und halbmondförmig, eingerahmt von Sanddornbüschen, die überall die Steilküste zierten. Ein paar vergangene Goldbeeren blinkten dazwischen wie Glutflecken am Ende einer Zigarette in der Nacht …
    Jemand saß dort unten im Sand, jemand in grauer Arbeitshose, grauer Jacke und mit bloßen Füßen. Sie blinzelte, aber er saß wirklich da. Wie war er dorthin gekommen? Seine Sachen waren sehr dunkel. Sie waren nass. Er war geschwommen. Es war weit vom Hafen, sehr weit, aber er war geschwommen. Er musste ein verdammt guter Schwimmer sein.
    Etwas bewegte sich am Rand ihres Gesichtsfeldes, und sie drehte den Kopf.
    Zu ihrer Rechten, ein wenig unterhalb des Weges, blitzte es blau im Sanddornsilber. Ein Arm winkte dort. Ein Kinderarm.
    »Das meinst du nicht ernst«, flüsterte Siri, ging aber folgsam ein Stück in die Richtung. Beim letzten Mal hatte dieser Kinderarm sie auf den Friedhof geführt; in eine stoffraue gewagte Umarmung … War es klug, sich noch einmal von dem Blau führen zu lassen? Es war nicht klug.
    Und dann sah sie den Pfad, der dort hinunterführte, wo der Arm gewinkt hatte. Nein, keinen Pfad, eher einen Wildwechsel. Er war zu steil, es war Wahnsinn, dort hinunterklettern zu wollen.
    Der Arm winkte noch einmal.
    Komm, komm.
    »Ich komme«, flüsterte Siri. »Zeig mir den Weg.«

9
    Das Meer vor Lenz war sehr unendlich. Es leckte an seinen Füßen, als wollte es testen, ob Unendlichkeit ansteckend war.
    »Eines Tages«, sagte er, »komme ich vielleicht. Finde ich dann Iris? Wenn ich immer weiter hinausschwimme,

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