Friedhofskind (German Edition)
wirklich tot?«, fragte Lena hinter Siri.
Sie hatte jetzt das Baby auf dem Arm, das Siri um eine Milchflasche herum ansah. Siri dachte, dass sie das Baby mochte und dass sie es wahrscheinlich deshalb mochte, weil es eine für Babys etwas zu große Nase hatte.
»Ja«, antwortete sie. »Toter kann man nicht sein.«
»Haben Sie vorher schon mal einen Toten gesehen?«
Siri schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Ich auch nicht«, sagte Lena und schüttelte sich ein wenig, was ihren adretten Pagenkopf schaukeln ließ. Aber das Schütteln hatte etwas von Geisterbahngruseln. Lena, dachte Siri, hatte den Toten gar nicht gesehen. »Die Polizei müsste gleich hier sein. Sie haben ganz nasse Hosenbeine. Soll ich Ihnen eine Hose von mir leihen?«
Das Kind spuckte die Flasche aus und begann, zu strampeln, und Lena setzte sich mit ihm auf einen der Sessel.
»Es geht schon«, sagte Siri, »danke.« Und dann, ganz plötzlich: »Lieben Sie jemanden?«
Sie wusste selbst nicht, wie es kam, dass sie diese Worte sagte.
Lena starrte sie an. »Bitte?«
Das Baby lag jetzt auf dem Sessel, streckte die Beine in die Luft und lächelte um seine große Nase herum. »Ob ich liebe …«, sagte Lena leise. »Ich weiß nicht. Man denkt nicht so oft darüber nach, wenn man ein Baby hat.« Sie lachte. »Keine Zeit. Und früher hatte ich fast nur Zeit für die Musik. Klavier. Ich habe Klavier gespielt. Ich war viel unterwegs, zu Konzerten. Vielleicht habe ich die Musik geliebt. Seit die Kleine da ist, habe ich das Klavier zu Hause nicht angefasst. Wir wollten immer einen Flügel hier draußen in die Datsche stellen … es war so ein Traum …« Sie zuckte, einmal mehr, die Schultern. »Natürlich liebe ich die Kleine«, setzte sie hinzu, so als wäre ihr eben eingefallen, dass diese Aussage von ihr erwartet wurde.
»Aber … zum Beispiel … ihren Vater?«
»Ja, sicher …«, sagte Lena lahm.
Siri schüttelte den Kopf. »Vergessen Sie’s. Tut mir leid, dass ich gefragt habe, ich bin … etwas durcheinander.« Sie kniete sich auf den Boden, neben den Sessel, auf dem das Kind strampelte, und das Kind packte ihre Jacke, zog daran und lachte. Siri merkte, dass sie sein Lachen erwiderte, es war vermutlich irgendein Ur-Reflex.
»Lieben Sie denn?«, fragte Lena. »Jemanden?«
Siri schüttelte den Kopf. »Ich … ich habe keine Kinder.«
»Sie könnten welche kriegen.«
»Vielleicht«, sagte Siri. »Aber ich glaube nicht, dass es zu mir passen würde.«
Das Baby spielte jetzt mit ihrem Reißverschluss. »Dürfte ich … dürfte ich es einmal halten?«, fragte sie. Lena nickte, und Siri hob das Baby vorsichtig hoch.
»Gut, dass man dir noch nichts erklären muss«, flüsterte sie und spürte sein warmes, winziges Gewicht und sah es sein freundliches Nasengesicht runzeln. »Gut, dass du nicht alt genug bist, um zu fragen, was da unten im Schilf liegt.« Das Baby roch so gut, es roch nach Babyhautcreme und Babypuder und keinen Erinnerungen.
Sie stellte sich vor, wie der alte Fuhrmann vor vierzig Jahren mit einem anderen Baby auf dem Arm in seiner dusteren, verdreckten Küche gestanden hatte, während der Schnee leise das Dorf zudeckte, die Gräber zudeckte, die Straße zudeckte, auf der Lenz’ Mutter im Schneesturm erfroren und sein Vater neben seinem Moped gestorben war.
Sie stellte sich ihre eigene Mutter vor, die mit ihr als Baby auf einer Veranda gestanden hatte. Sie war schön gewesen, ihr Vater hatte es ihr später erzählt, auf die blasse, angestrengte Art schön, Kopfweh-schön, schön in einem verdunkelten Zimmer, in dem man sie nicht stören durfte.
»Die Kleine mag Sie«, sagte Lena. »Gucken Sie! Sie versucht, Ihren Reißverschluss zu essen. Sie isst nur die Reißverschlüsse von Leuten, die sie mag.«
»Oh«, sagte Siri und fühlte sich für Sekunden glücklich.
»Da sind sie«, sagte Lena. »Die von der Polizei. Sie werden Fragen stellen.« Sie nahm ihr das Nasenbaby wieder weg, und ein kalter Fleck blieb dort zurück, wo es sie eben noch gewärmt hatte. »Wir sollten hinuntergehen.«
»Sie rennen alle zum Hafen«, sagte Iris. »Irgendetwas ist da.«
Lenz setzte sich in seinem Bett auf.
»Wie spät ist es?«
»Früh«, sagte Iris. »Und kühl. Kann ich zu dir ins Bett kommen?«
Lenz rückte ein Stück, und sie kroch unter die Decke.
»Deine Füße sind eiskalt«, sagte er.
Sie nickte, stolz. »Es sind die kältesten Füße im ganzen Dorf. Aber ich habe ganz warme Hände, fühl mal.«
Lenz nahm ihre Kinderhände
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