Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
kann?«
    »Nein.«
    Sie sah ihn an, sie schien zu warten, dass er noch etwas sagte – aber was sollte er sagen? Schließlich blickte sie auf ihr Bein hinunter, und er folgte ihrem Blick. Zwischen ihren Fingern quoll es dunkel und zähflüssig hervor.
    »Lass mich das sehen«, sagte Lenz.
    Sie zuckte zusammen. »Nein. Es ist nichts. Ich kann das Bein bewegen …«
    Lenz nahm ihre Hände behutsam von der Wunde. Das Blut hatte noch nicht aufgehört, zu fließen. Er fand ein graues Stofftaschentuch in seiner Jacke und machte einen notdürftigen Druckverband aus dem Taschentuch und einem Stück Holz, während Siri wegsah und offenbar die Zähne zusammenbiss.
    »Annelie ist besser mit Wunden«, sagte Lenz. »Wenn ich unter die Räder geraten bin, hat immer sie sich um die Wunden gekümmert.«
    »Unter welche Räder bist du geraten?«
    »Egal. Die Wunde ist wichtiger …«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe mich schon so oft geschnitten, an den Gläsern. Ein tiefer Schnitt blutet viel stärker. Erzähl.«
    Er zögerte. »Es gibt nicht viel zu erzählen. Du kennst die Geschichte von Aschenputtel. Es gab mehr Geschichten. Sie sind nicht spannend; Geschichten über einen kleinen Jungen, der zu blöd dazu war, sich zu wehren, wenn sie ihn verprügelt haben. Irgendwann bin ich nicht mehr in die Schule gegangen … nach der vierten. Aber die Geschichten haben schon ein wenig früher aufgehört. Ich habe erst vor Kurzem angefangen, darüber nachzudenken, warum. Die Leute glauben … es ist lächerlich … sie glauben, ich hätte etwas mit den Unfällen zu tun. Mit jedem einzelnen Unfall, der irgendwem passiert hier. Ich frage mich, ob es Annelie war, die das Gerücht in die Welt gesetzt hat. Ob sie ihnen das erzählt hat, damit sie mich in Ruhe lassen.«
    »Annelie ist klug.«
    »Ja. Sie wird sich auch um dein Bein kümmern.«
    »Sie kann mich nicht leiden.«
    »Quatsch. Wie kriegen wir dich nach Hause?«
    Er sah an der Steilküste empor, wo im silbernen Sanddorn kein himmelblauer Fleck mehr zu finden war. Stattdessen stand oben jemand, oben auf dem Weg. Die Silhouette eines Jemands, nicht zu erkennen vor dem hellen Himmel. Vielleicht hatte der Jemand gesehen, wie Siri gefallen war.
    Lenz las die Gedanken des stummen Beobachters klar wie die eingemeißelten Buchstaben auf einem Grabstein:
    Beinahe wäre Frau Siri Pechten an diesem Nachmittag an der Steilküste zu Tode gestürzt. Und wer sitzt unten in der Bucht? Wer hat sie da hinuntergelockt? Das Friedhofskind.
    Als der stumme Beobachter seinen Beobachtungsposten verließ, erkannte Lenz ihn an seinen Bewegungen: Es war der junge Kaminski.
    »Du bist geschwommen, oder?«, fragte Siri, die Kaminski nicht gesehen hatte. »Ich könnte auch schwimmen, um zurückzukommen.«
    Er nickte. »Es ist kalt. Aber ich fürchte, es ist die einzige Möglichkeit. Früher sind wir zusammen hergekommen. Die Bucht gehörte nur uns …« Er schüttelte den Kopf, stand auf und zog sie auf die Beine. Sie war so leicht im Gegensatz zu Winfrieds spannungslosem, aufgegebenem Gewicht! Fast so leicht wie Iris.
    »Wollte sie zu dieser Bucht?«, fragte Siri, als sie sich bei ihm unterhakte, um die drei Schritte zum Wasser zu humpeln. »In der Nacht, in der sie ertrunken ist? Wollte Iris hierher?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Glaub mir, ich weiß es nicht.«
    Er sah sie an, sah das Klare, Scharfkantige in ihrem Gesicht und zuckte die Schultern. »Tja, jetzt bist du ihm wohl ausgeliefert, dem Friedhofskind. Es wird dich vielleicht ertränken, es weiß manchmal nicht, was es tut, es ist nicht ganz normal …« Er kniff die Augen zusammen. »Hast du Angst?«
    »Unsinn«, sagte sie langsam. »Nein.«
    Er war sich nicht sicher, ob sie log.
    »Lass den Mantel hier«, sagte er. »Er ist hinderlich beim Schwimmen.«
    Diesmal war ihr Nein entschiedener und – seltsam – panischer. Sie raffte den Saum des geblümten Regenmantels mit der freien Hand an sich wie etwas, von dem ihr Leben abhing. Die Gummistiefel hingegen streifte sie achtlos von den Füßen.
    »Ich habe noch andere Schuhe«, sagte sie. »Aber keinen anderen Mantel.«
    Damit ließ sie ihn los und humpelte voraus ins Wasser. Nach ein paar Metern drehte sie sich um. »Komm.« Und wie sie da so im Wasser stand, um sie herum der beginnende Sommer, da war sie auf einmal ein Bild. Er vergaß alles Scharfkantige.
    Er watete ihr nach ins Meer, und kurz darauf schwamm er neben ihr; neben ihr und ihrem Regenmantel, der sich im Wasser

Weitere Kostenlose Bücher