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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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ausbreitete wie ein schwimmender Blumengarten. Oder wie eine Qualle mit Tapetenmuster.
    Es war schön und etwas unwirklich, neben Siri herzuschwimmen.
    Es war weit bis zum Steg.
    Irgendwann sagte Siri: »Ich kriege das nicht hin, das Bein –«, und er legte einen Arm um sie.
    »Beweg dich nicht«, flüsterte er. »Ich schleppe dich ab. Ich habe es tausendmal geübt.«
    Die Übungen – aber das sagte er ihr nicht – hatten nur in seinem Kopf stattgefunden. Und es war immer Iris gewesen, die er gerettet hatte. Es war auch jetzt Iris. In seiner Vorstellung war es Iris.
    Es war einfach, Siri abzuschleppen, das Wasser war still und glatt. Damals hatte der Sturm die Wellen zu Schluchten und Tälern aufgepeitscht …
    Der Sturm? Moment. Woher hatte er dieses Bild? Er war nicht dabei gewesen. Wenn Winfried die Wahrheit sagte, hatte Lenz im Bett gelegen, und Iris war ganz alleine mit dem Boot hinausgefahren. Woher kam diese Erinnerung an den Sturm und die Wellen? Gehörte die Erinnerung am Ende gar nicht zu Iris, sondern zu einer anderen ertrunkenen Person?
    Carla Berg?
    Am Steg stand ein Auto. Werters Auto.
    Als sie über den Steg an Land gingen, langsam, nass, erschöpft, Siri auf seinen Arm gestützt, stieg jemand aus dem Auto.
    Kaminski.
    Er wartete breitbeinig, mit verschränkten Armen, bis sie bei ihm waren.
    Dann hielt er die Beifahrertür auf. »Steigen Sie ein«, sagte er zu Siri. »Ich nehme Sie mit. Sie brauchen einen Arzt.«
    »Ich …«, begann Siri und ließ Lenz los.
    Lenz sagte nichts, er stand nur da und fragte sich, was er hätte sagen sollen.
    »Ich bin gefallen«, erklärte Siri. »An der Steilküste …«
    Kaminski nickte. »Das habe ich gesehen. Ich stand oben. Ich dachte schon, ich müsste einen der Fischer da draußen anrufen, um Sie zu holen. Oder mir Aljoschas Boot leihen. Er braucht es wohl nicht mehr, was?« Er sah Lenz an, als er das sagte.
    »Er … hat mich hergebracht«, sagte Siri und nickte zu Lenz hin.
    »So«, sagte Kaminski.
    Siri sah Lenz an, entschuldigend. Er sah, wie erschöpft sie war. »Es ist vielleicht wirklich besser, mit dem Auto …« Er nickte.
    Kaminski wollte Siri auf den Beifahrersitz helfen, doch sie öffnete die Hintertür, um sich auf den Rücksitz zu setzen. Und dann fuhren sie los. Lenz sah ihnen nach. Dann bückte er sich, hob eine Handvoll kleiner Steine auf, drehte sich im letzten Moment um und schleuderte sie nicht auf das Auto, sondern ins Wasser wie eine Ladung Schrot. Ein Schwarm Enten stob aus dem Schilf auf und floh, floh vor ihm. Sie flohen alle vor ihm, sie waren immer geflohen, von Anfang an, selbst seine Eltern, so weit weg wie irgend möglich.
    »Warum?«, flüsterte er. »Warum bleibt keiner je da? Muss ich denn alle zum Bleiben zwingen?«
    †   †   †
    »Wir haben uns lange nicht mehr unterhalten«, sagte Kaminski, im Auto.
    Wir haben uns noch nie unterhalten, dachte Siri. Sie sah durch die Heckscheibe Lenz’ Gestalt kleiner und kleiner werden, kleiner und grauer. Er wurde immer grauer, je weiter man von ihm weg war. Verzeih mir, Lenz, dachte sie, aber ich hätte es nicht geschafft, mir dir ins Dorf hochzulaufen.
    Das Bein war nicht gebrochen, aber es tat verdammt weh, und sie war erschöpft und eiskalt. Sie waren lange im Wasser gewesen. Zu lange.
    Kaminski sah sie im Rückspiegel an.
    »Wir haben uns lange nicht mehr unterhalten«, sagte er, noch einmal, etwas lauter. »Was denken Sie? Inzwischen? Über das Dorf?«
    »Ich denke … dass mir noch ein Fenster fehlt«, sagte Siri.
    »Ich meine nicht die Fenster«, sagte Kaminski und schaltete einen Gang hinauf und wieder herunter, nur, um zu schalten. Um den Motor von Werters Auto ein wenig aufheulen zu lassen.
    »Seit wann sind Sie den Gips los?«, fragte Siri.
    »Zwei Tage. Der nächste Arzt ist eine halbe Stunde entfernt. Ich springe nur bei der Werkstatt raus und sage Werter Bescheid, ist ja sein Auto. Das, an dem ich zurzeit bastle, ist noch nicht zugelassen, ich hab das alte verkauft und mach mir jetzt ein anderes schick …« Siri hörte nicht mehr zu und ließ ihn über Autos reden.
    Aber als er bei der Werkstatt hielt, öffnete sie die Tür und stieg, etwas mühsam, aus dem Wagen. »Ich glaube«, sagte sie, »ich brauche keinen Arzt. Ich brauche nur Verbandszeug.«
    »Kein Problem«, sagte Kaminski. »Haben wir hier. Aber sind Sie sicher?«
    Siri atmete den Benzingeruch ein, lauschte dem metallenen Hämmern, das aus der Werkstatt drang, ließ das Bild des asphaltierten Hofs

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