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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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schob sie sanft mit sich zum Friedhofstor, und sie ging mit, weil sie es nicht wagte, sich zu sträuben. Er war nicht so groß wie Lenz, aber er war sehr viel größer als sie. Es war nicht schwierig, sehr viel größer zu sein als sie.
    Der Schal, der um ihren Hals lag, schützte sie vor nichts, und das rote Telefon war weit weg.
    Vor dem Friedhofstor nickten ihr Kaminskis Freunde einen stummen Gruß zu.
    »Wir bringen Sie nach Hause«, sagte Kaminski. »Nur bis zur Tür. Und in Zukunft laufen Sie nicht mehr alleine im Dunkeln rum.«
    Als Siri schließlich auf dem schmalen Bett lag, schüttelte sie den Kopf über sich selbst und die Welt. Sie riss das Papier von der Tafel Schokolade und schüttelte noch einmal den Kopf.
    »Ich werde von einer Horde Rechter beschützt«, flüsterte sie und unterdrückte ein völlig irrsinniges Lachen. »Ich werde vor einer Horde Rechter vor einem Menschen beschützt, der verschwunden ist und den ich so sehr vermisse wie niemanden zuvor. Skurriler kann es nicht werden.«
    Lenz blieb verschwunden.
    Der Sommer lief durch das unsichtbare Großglas der Zeit wie Sand durch eine Sanduhr, der Juli verwandelte sich in August, wobei der August natürlich der Juni der Gegend war, und noch immer gab es Walderdbeeren oben an der Steilküste. Siri ging manchmal dorthin, tagsüber und sehr vorsichtig. Sie war so lange vorsichtig, bis sie sich dumm vorkam. Die Polizei kehrte nicht ins Dorf zurück. Manchmal ging Siri auch den Pfad zwischen den Hecken entlang zum Haus der Fuhrmanns, und manchmal war Frau Ammerland dort.
    »Sie glaubt, sie müsste mir helfen«, knurrte Winfried. »Aber ich komm schon alleine zurecht. Ich krieg den alten Körper schon irgendwie herumgeschleift auf den Krücken, verschwindet ihr bloß alle und lasst mich in Ruhe.«
    »Bitte«, sagte Frau Ammerland und zuckte mit den Schultern. »Dann gehe ich. Wenn du so gut alleine zurechtkommst, brauchst du den Jungen ja nicht. Dann muss er ja nicht zurückzukommen in dieses Loch von einer Wohnung.«
    »Ist er bei dir?«, knurrte Winfried. »Schick ihn her. Natürlich brauche ich ihn. Schick ihn her, verdammt.«
    »Er ist nicht bei mir«, sagte Frau Ammerland.
    »Aber du weißt, wo er ist«, murmelte Winfried. »Du weißt es doch.«
    »Ich wüsste auch gerne, wo er ist«, sagte Siri leise. Niemand erwiderte etwas darauf.
    Sie arbeitete weiter an den Fenstern. In Ermangelung eines Bleitisches fügte sie die Scheiben auf dem Betonboden zusammen, arbeitete mit Holzleisten, Hammer und Nägeln, bog Bleistücke zurecht und kniete stundenlang auf dem Boden, um die Verbindungsstellen zu verlöten. Frau Hartwig war nicht begeistert von der Vorstellung, dass Siri in ihrem Keller kniete und mit einem offenen Lötkolben und flüssigem Lötzinn hantierte. Da könne doch, sagte sie, sicher etwas Feuer fangen? Beton, hatte Siri argumentiert, brannte im Allgemeinen eher schlecht. Man weiß nie, hatte Frau Hartwig gesagt. Sie hatte die Miete angehoben. Wenn der Beton teurer war, schien er brandfester zu sein.
    Ungefähr zwei Wochen nach Lenz’ Verschwinden geschah etwas Seltsames: Die blauen Gläser brachen.
    Es waren nur die blauen, aber sie hatte viel Blau verwendet in ihren Skizzen: blaues Meer, Maria Magdalenas oder Iris’ blaues Kleid, blauer Himmel. Manche der Gläser brachen beim Zuschnitt, manche sprangen erst hinterher, wenn sie schon dabei war, sie einzufügen, und manche hielten so lange, bis sie sie fertig eingepasst hatte, um dann beim Einfügen der Nachbargläser plötzlich zu zerspringen. Siri fluchte. Sie beschwerte sich am Telefon über die Gläser, aber es half nicht.
    Und dann, eines Nachmittags, stand Lena vor der Tür. Sie hatte bei Frau Hartwig geklingelt, und Frau Hartwig brachte sie zu Siri. Frau Hartwigs Gesicht war ein einziges großes Hörrohr, als sie sie verließ. Siri bedankte sich und schloss die Tür hinter Lena, was Frau Hartwig ganz offensichtlich nicht gefiel. Vielleicht legte sie sich oben in ihrer eigenen Wohnung auf den Fußboden und lauschte nach unten.
    »Das werden also … die Fenster«, sagte Lena und ließ ihren Blick über das geordnete Chaos auf dem Boden schweifen. Siri nickte. Lena hatte das Baby im Tragtuch mitgebracht, und es sah Siri mit weit aufgerissenen Augen an. Sie merkte, dass sie auch das Baby vermisst hatte – seinen erstaunten Blick und seine große Nase.
    »Setz dich«, sagte sie und merkte, dass es nichts gab, worauf man sich setzen konnte, nicht einmal einen freien Platz auf dem

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