Friedliche Zeiten - Erzählung
Wahrheit. Also sagte ich, ich auch die Wahrheit, obwohl ich nicht sicher war, ob es stimmte.
Ich war immer froh, daß ich beim Einschlafen Wasa hatte und nicht wie Flori allein in einem eigenen Zimmer schlafen mußte, obwohl es Flori nichts ausmachte, auch später nicht, als er größer wurde, weil er die Rheinfahrt eben nicht glaubte; jeden Abend wieder versuchte ich, vor Wasa einzuschlafen, damit ich nicht daran denken mußte. Ich konnte noch so sehr versuchen, vor dem Einschlafen an etwas anderes zu denken, es kam mir immer etwas dazwischen, und sehr oft war es der Moment, wo die Mutter auf der Brücke rechts abgebogen war und uns mitnehmen wollte. An den Abenden, wenn die Eltern zusammen wegfuhren, mußte ich die ganze Zeit daran denken, oft schon, sobald ich sie nach der Sicherheitsketten-Bewegung zusammen ins Auto steigen sah; ich war nie ganz sicher, ob ich sie lebend wiedersehen würde, auch wenn die Mutter nichts vom An-die-Wand-Fahren gesagt hatte; und manchmal an solchen Abenden sagte ich zu Wasa, glaubst du, sie kommen jemals wieder zurück, und Wasa sagte, keine Ahnung, und wenn wir es einmal ausgesprochen hatten, wurde uns nicht besser, sondern dann fingen wir alle beide an, uns so zu fürchten, daß wir vor Furcht irgendwann keine Luft mehr bekamen und jeder Gruselfilm dagegen harmlos war, weil es eine Furcht war, die sich immer mehr steigerte, und wir konnten nichts dagegen machen, es half auch nicht, daß wir zu zweit waren und Flori ruhig im Bett lag und schlief, es half nicht einmal, einen Tierfilm im Fernsehen anzuschauen, weil die Furcht überall war, in uns selbst und überall um uns herum im Zimmer, in der ganzen Wohnung, im Fernseher; wir machten die Fenster auf, um besser atmen zu können und um draußen an den Straßenlaternen zu sehen, daß alles in Ordnung war, aber die Straßenlaternen hörten vor der Landstraße auf, die Landstraße war schwarz und hatte die Eltern verschluckt, und wir würden sie nie mehr wiedersehen, die Furcht saß im Bauch, in den Beinen, in der Brust, und von der Brust zog sie bis oben hin alles zu, daß ich nicht mehr wußte, wie ich jemals im Leben vernünftig Luft gekriegt hatte. Wir machten das Fenster wieder zu, um die Dunkelheit auszusperren, dann wieder auf, um Luft zu kriegen und die Straßenlaternen zu sehen, hinter denen die Dunkelheit anfing, die wir dann schnell wieder aussperren mußten vor Furcht. Wir konnten an solchen Abenden auch überhaupt nicht miteinander sprechen wie sonst, weil wir keine Sätze herausbrachten und alles Furchtbare wußten, aber ohne es aussprechen zu können, auch sonst sprachen wir fast nie von der Rheinfahrt, aber natürlich sehr oft darüber, daß die Mutter jung sterben und nicht alt werden würde, weil es einer ihrer Lieblingssätze war, und es beschäftigte uns andauernd, weil wir das Gefühl hatten, daß wir vernünftigerweise alles daransetzen sollten, ihren frühen Tod vielleicht nicht gerade zu verhindern, das konnte wahrscheinlich keiner, dachten wir, weil keiner daran zweifelte, daß es ihr ernst damit war, und sie sich einfach nicht scheiden ließen, aber unseren Schuldanteil an ihrem Jung-Sterben wollten wir wenigstens so gering wie möglich halten. Also dachten wir oft vor dem Einschlafen darüber nach, was wir machen könnten, daß sie möglichst wenig Sorgen hatte: leise sein, uns nicht beim Lügen erwischen lassen, geregelte Verdauung, gesund sein und gute Noten in der Schule; darüber sprachen wir oft, aber fast nie mehr von der Rheinfahrt, schon gar nicht an den Abenden, an denen sie beide weg waren. Aber die Frage, glaubst du, sie kommen noch jemals wieder, reichte natürlich aus, beide dachten wir sofort an die Rheinfahrt, schließlich blieb uns die Luft weg vor Furcht, wir konnten es in keinem Zimmer mehr aushalten, sondern rannten alle drei Minuten in die Küche, um auf der Küchenuhr nachzusehen, ob sie jemals wiederkämen, und wenn wir ein bißchen zu uns fanden zwischen den Angstanfällen, versuchten wir, uns zu beruhigen und abzulenken, wir sagten, spätestens Mitternacht sind sie bestimmt wieder da, davon wurden wir ein bißchen ruhiger, weil sie schon ein paarmal bis Mitternacht wiedergekommen waren; wenn es dann aber Mitternacht wurde, und sie waren bis dahin noch nicht wieder da, sagte eine von uns, jetzt kommen wir alle ins Waisenhaus. Als wir noch kleiner waren und die Rheinfahrt noch frisch im Gedächtnis hatten, fürchteten wir uns, sobald das Waisenhaus ausgesprochen und laut gesagt war,
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