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Friedliche Zeiten - Erzählung

Friedliche Zeiten - Erzählung

Titel: Friedliche Zeiten - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rotbuch-Verlag
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endgültig so, daß wir es in der Wohnung nicht mehr aushielten, sondern barfuß und im Schlafanzug hinausrannten ins Treppenhaus, nach Luft japsend, die Treppe hinunterrasten und bei Heinckels klingelten, die Tür oben war sperrangelweit offen und wäre für jeden Einbrecher die helle Freude und Einladung gewesen, aber wir glaubten schon ohne Angst nicht an Einbrecher, und jetzt waren uns Einbrecher völlig egal, weil wir morgen früh ins Waisenhaus kommen würden, und wir wußten nicht einmal, was wir dahin überhaupt mitnehmen durften, weil in Waisenhäusern keiner anziehen darf, was er hat, dort werden Uniformen verteilt, und dort erlaubten sie einem auch keine eigenen Bücher und Puppen, überhaupt nichts. Natürlich schliefen Heinckels nach Mitternacht längst, so mußten wir immer mehrmals klingeln, jedesmal etwas länger, und irgendwann Sturm läuten, und dann hofften wir, daß Herr Heinckel aufmachte, weil seine Frau etwas mehr schimpfte, wenn wir sie nachts aus dem Bett klingelten, aber eigentlich waren sie beide nicht richtig unfreundlich, deswegen klingelten wir auch bei ihnen und nicht bei den andern im Haus, und sobald drinnen ein Geräusch zu hören war, versuchte Wasa noch einmal ganz ruhig durchzuatmen, wie sie es früher gekonnt und jetzt verlernt hatte, jetzt brachte sie nur fiepsige Jaultöne und Nebengeräusche, aber kein Atmen dabei zustande, und wenn schließlich die Tür aufging, machte sie sehr höflich einen Schlafanzug-Knicks, versuchte, guten Abend zu sagen, und dann war es meistens aus. Bis zum Waisenhaus kam sie nie, weil wir beide nach dem mißglückten Waisenkindergruß so losheulten, daß auch eine verschlafene Frau Heinckel sofort begriff : Unsere Eltern waren wohl ausgegangen, und nach einer Weile fing sie ganz freundlich ein bißchen zu schimpfen an, daß wir doch unseren Eltern einen fröhlichen Abend zu zweit ruhig einmal gönnen sollten, ohne gleich solch ein Theater zu machen, wer wird denn auch solch ein Angsthase sein, sagte sie, und wir sollten uns unseren kleinen Bruder zum Vorbild nehmen, der sicher oben in seinem Bett liegt und längst friedlich schläft; und das freundliche Schimpfen tat gut, obwohl alles falsch war, was Herr oder Frau Heinckel da sagten, weil die Mutter ihnen natürlich nicht erzählt hatte, daß sie einmal früh sterben würde, und weil wir ihnen nicht gut sagen konnten, daß sie uns dabei einmal schon beinah mitgenommen hatte, und heute ganz sicher den Vater. Trotzdem tat das freundliche Schimpfen gut, vielleicht tat es gerade deshalb so gut, weil alles daran nicht stimmte, und allmählich hörten wir auf mit dem Schluchzen, weil ich vor Herrn oder Frau Heinckel mit einem Mal nicht mehr sicher war, ob wir die Rheinfahrt wirklich erlebt hatten oder vielleicht nur geträumt, nach einer Weile war ich fast überzeugt, daß ich sie nur geträumt hatte, und wenn ich soweit war, hatte Wasa es auch geschafft, und dann schickten Herr oder Frau Heinckel uns wieder nach oben, und sobald wir oben durch die Tür durch und in der Wohnung waren, fing es sofort wieder genauso an wie vorher, aber zweimal trauten wir uns nicht bei Heinckels zu klingeln, also sagten wir uns laut vor, was sie unten gesagt hatten, wir taten so, als würde es stimmen, obwohl wir genau wußten, es stimmt leider nicht, heute abend hat sie ihn endgültig mitgenommen.
    Als wir größer wurden, fürchteten wir uns immer noch, aber nicht mehr ganz so sehr, weil wir irgendwann, als wir schon richtig mit Zeit rechnen konnten, überlegt hatten, wie alt kann man eigentlich werden, wenn man jung stirbt, wir rechneten ein bißchen herum, ich sagte, vielleicht so um die Dreißig oder so, aber Wasa sagte, pscht, sei bloß still, du Dumme, sie ist doch jetzt schon viel älter, und ich kriegte wirklich einen Riesenschrecken, weil es nach dieser unvorsichtigen Zahl jetzt praktisch jeden Tag passieren mußte, aber Wasa sagte etwas großspurig, heutzutage ist man mit vierzig noch längst keine alte Frau. Es klang, als hätte sie es irgendwo aufgeschnappt, jedenfalls wie von einem Erwachsenen gesagt und schon etwas ungefährlicher, aber wir verhandelten lieber noch weiter, weil es uns noch zu nahe an heute abend dran war und wir lieber einschlafen wollten, als immerzu Angst zu haben, und schließlich einigten wir uns darauf, daß wir vierzig noch ein bißchen strecken könnten, und sagten, mit vierzig ist man also noch jung, und vierzig geht ja eigentlich bis neunundvierzig Jahre noch immer weiter und hört

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