Friedliche Zeiten - Erzählung
erst bei fünfzig auf, genaugenommen geht die Vierzig also bis 49 Jahre und 364 Tage. Wir beschlossen, daß die Mutter einen der letzten Tage davon fürs Sterben nehmen würde, und um Wasa nicht wieder zu beunruhigen, verschwieg ich, daß ich sehr starke Zweifel hatte, ob sie es wirklich so machen würde.
Schließlich kamen sie an diesen Abenden immer wieder, weil der Vater blau wie eine Haubitze noch besser fuhr als die Mutter je im Leben stocknüchtern, und jedesmal wenn er den Satz nachts sagte, mußten wir lachen wie die Verrückten.
Später gingen die Eltern nicht mehr so oft zusammen weg, weil es die Mutter bloß müde machte und weil es allmählich auch weniger Waffenstillstände gab und der Wohnungskrieg um die Schlüsselfrage wieder losging und um eine Menge anderer Fragen. Wir waren mit der Zeit in der Sache immer mehr auf der Seite des Vaters, weil wir unser Zimmer sehr gern gelegentlich abgeschlossen hätten, um nicht dauernd gestört zu werden, und wegen der Geheimnisse. Wir verstanden langsam, daß wir Geheimnisse hatten. Die ersten Geheimnisse, die wir versehentlich hatten, ohne von ihnen zu bedenken, daß wir sie hatten und daß es Geheimnisse waren, waren zwei Schulpausenbrote, und solange wir nicht begriffen, daß unaufgegessene Schulpausenbrote ein Geheimnis sind, wußten wir nichts von Geheimnissen, aber nach den ersten unaufgegessenen Schulpausenbroten wußten wir es ein für allemal, sie sind nicht nur ein Geheimnis, das wir vor der Mutter verborgen halten in unseren Schulranzen in unserem Zimmer, sondern sie sind wegen der Hungerjahre zusätzlich noch eine Sünde, und natürlich wollten wir nicht, daß die Mutter wegen unserer Schulpausenbrote wieder an die Hungerjahre und ihren toten Verlobten erinnert wurde, denn davon wurde sie immer so traurig, daß sie sich nur noch wünschte, ihm recht bald ins Grab folgen zu können, anstatt ihre Lebenstrauer weitertragen zu müssen, weil wir Schmalzbrote nicht mochten. Und nach und nach mochten die anderen Mädchen in der Schule, mit denen wir Schulbrote tauschten, auch keine Schmalzbrote mehr, weil die Mutter zu wenig Salz auf das Schmalz streute, und so hörten sie auf, uns ihre Mettwurstbrote oder sogar Schokoladenbrote gegen unsere Schmalzbrote einzutauschen. Wir versuchten ein paarmal, die Mutter zu überreden, daß sie mehr Salz draufstreute, aber sie sagte, wir könnten uns an versalzenen Schmalzbroten in jungen Jahren die Nieren kaputtmachen, die wir uns sowieso schon die ganze Zeit kaputtzumachen versuchten, indem wir keine warmen Unterhemden anzogen, und das war ihr ein schlimmer Gedanke. Dagegen war nichts zu machen, aber irgendwann beschlossen wir trotzdem, keine Schulpausenbrote mehr essen zu wollen, und gleich bei den ersten unaufgegessenen Broten lernten wir, was ein Geheimnis ist, als die Mutter am Nachmittag in unser Zimmer kam, in dem es ihr ein paar Minuten lang so verdächtig still erschienen war, daß sie gleich dachte, sie müßte vielleicht eine von uns rasch retten, und bei der Gelegenheit schaute sie auch in unsere Schulranzen, zog entsetzt ein in Pergamentpapier eingewickeltes Geheimnis aus meinem Ranzen und ein zweites aus Wasas Ranzen und sagte entsetzt: Kinder, ihr eßt eure Brote nicht auf und bringt sie heimlich wieder mit heim. Dann geriet sie in eine solche Lebenstrauer über die Hungerjahre, unsere Heimlichkeiten, Sünden und ihren toten Verlobten, daß Wasa und ich fortan lieber die Tür manchmal mit einem Schlüssel zugesperrt hätten, um uns die Mutter bis wenigstens kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag zu erhalten, weil uns klar wurde, wenn ein Schulpausenbrot ein Geheimnis und eine Sünde ist, kann es uns jeden Tag mit etwas anderem versehentlich wieder erwischen, und es erwischte uns natürlich auch, allerdings erwischte es uns nicht mehr mit Schulpausenbroten, die wir von nun an auf dem Heimweg bis zum letzten Krümel an die Tauben verfütterten, aber von einem bestimmten Alter an erwischte es uns einfach dauernd. Der Vater sagte, Irene, sie sind im Geheimnisalter, laß sie doch einfach machen.
Der Vater war inzwischen selbst in einer Art Geheimnisalter, und also waren wir in der Sache durchaus auf seiner Seite, aber ganz auf derselben Seite waren wir auch wieder nicht, fanden wir, weil der Vater mit seinen Geheimnissen bloß seine Frau aufs Spiel setzte, wir hingegen unsere Mutter, und uns war klar, daß eine Mutter für ihre Kinder mehr wert ist als eine Frau für ihren Mann, der immerhin eine neue finden
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