Friedliche Zeiten - Erzählung
sich selbst, weil sie so müde war wie noch niemals in ihrem Leben, aber sie sagte, offenbar könnte sie in diesem Leben so müde sein, daß sie vor Müdigkeit nicht mehr weiterkönnte, und trotzdem würde sie vor ihren Sorgen niemals Ruhe finden. Eine Schlaftablette reicht nicht bei solchen Sorgen, sagte sie, am liebsten würde ich das ganze Röhrchen voll Schlaftabletten auf einmal runterschlucken, dann wäre ich wenigstens sicher, daß ich danach bald einschlafen könnte. Ich sagte, du mußt dir nicht solche Sorgen machen, Mama, weil ich hoffte, ihr fiele der Satz mit der blauen Haubitze ein, und es war noch niemals jemand von uns im Badezimmer in Ohnmacht gefallen; aber es war nicht sehr überzeugend, weil ich mir selbst wegen Wasa Sorgen machte, und während wir hier im Wohnzimmer saßen, damit die Mutter mit ihren Sorgen nicht auf die Idee käme, das Röhrchen Schlaftabletten runterzuschlucken, saß Wasa drüben in unserem Zimmer und war auch noch schuld an dem ganzen Dilemma, weil sie ihre Tage bekommen hatte und es ihre Innereien gewesen waren, die dem Vater zum Abendbrot serviert worden waren; zwar hatte nicht Wasa sie serviert, sondern die Mutter, aber immerhin waren es Wasas Innereien gewesen, deretwegen der Vater vom Abendbrot aufgestanden und noch einmal weggegangen war. Ich hätte Wasa gern getröstet und gesagt, daß es bestimmt keine Geschwulst ist, aber das allein hätte natürlich noch nicht gereicht, um Wasa zu trösten, weil der Arzt auch schon gesagt hatte, daß es wahrscheinlich ihre Tage sind, und trotzdem hatte die Mutter die Sorgen und Innereien auf den Tisch gebracht. Ich dachte, wenn sie mit dem Vater wenigstens angestoßen und Sekt darauf getrunken hätte, daß sie eine Frau geworden war, dann wäre vielleicht alles anders geworden, obwohl ich es nicht glaubte, weil Wasa ja dann eine Säuferin geworden wäre, und das wäre der Mutter nicht recht gewesen; ich verstand auch, daß Wasa genug mit ihren Tagen zu tun hatte und nicht noch dazu eine Säuferin hatte werden wollen, und ich wäre gern zu ihr gegangen und hätte mit ihr gesprochen, obwohl mir ihre Tage unheimlich waren und ja wahrscheinlich heute nacht noch nicht aufhören würden; man mußte es sogar hoffen, nach allem, was der Arzt gesagt hatte, nur dachte ich, wenn ich jetzt rübergehe, ist die Mutter alleine hier und kann vor Kummer nicht schlafen, und Flori ist noch zu klein für ihren Kummer, und am Ende teilt sie dann die Packung Schlaftabletten mit ihm, um wenigstens ihn mitzunehmen. Flori hatte ein Micky-Maus-Heftchen ins Wohnzimmer mitgebracht und las vor sich hin, manchmal lachte er, aber vorsichtshalber lachte er ohne Stimme; er fand es eigenartig, daß er noch nicht ins Bett mußte, sondern im Wohnzimmer sitzen und lesen durfte, und die Mutter sagte nichts gegen die Micky-Maus-Heftchen, obwohl sie es sonst nicht mochte, wenn sie Micky-Maus-Heftchen in seiner Schulmappe fand. Flori wunderte sich, daß er noch auf war, aber weil er nichts von der Rheinfahrt wußte und uns nicht glauben wollte, daß sie es ernst gemeint hatte, bekam er es nicht mit der Angst, sondern war einfach nur still, damit ihr nicht auffiele, daß er im Wohnzimmer saß und Micky-Maus-Heftchen las, er dachte, wenn es ihr auffiele, würde er sofort ins Bett geschickt und müßte das Micky-Maus-Heftchen der Mutter abgeben und gleich das Licht ausmachen. Ich hatte das Gefühl, daß die Mutter Wasa und mich nicht mehr mitnehmen würde, weil wir zu groß dafür waren und Wasa ihr diese Tage angetan hatte, aber Flori war ungefähr auf der Kippe, und wenn ich jetzt zu Wasa gehen würde in unser Zimmer, konnte es sein, daß sie Flori nimmt und mit ihm die Tabletten teilt oder sich überlegt, daß sie beide mit dem Auto an die Wand fährt, bevor auch noch Flori zu groß dafür ist, und wenn Flori erstmal zu groß dafür wäre, müßte sie ganz alleine jung sterben. Ich dachte, wenn der Vater jetzt da wäre, könnten wir immerhin alle zusammen im Wohnzimmer sitzen und wissen, daß sie sich an die Wand gefahren hat. Das wäre zwar schlimm, aber es war trotzdem etwas, was wir schon kannten, und ich erinnerte mich, wie es ist, im Wohnzimmer zu sitzen und zu wissen, daß wir sie nie mehr wiedersehen; und es war so, daß ich es ganz bestimmt nicht wollte, aber dann dachte ich, es wäre immer noch besser als jetzt, obwohl ich an dem Abend noch fest an den Satz mit der blauen Haubitze glaubte und erst am nächsten Morgen nicht mehr glaubte, daß ich den Vater je
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