Friedliche Zeiten - Erzählung
Tage zählen und abwarten, ob es wieder anfängt; wenn es wieder anfangen würde, wären es die Tage; wenn es aber nicht wieder anfangen würde, sollte sie trotzdem immer noch weiterwarten, aber wenn es bis zu dem Tag, an dem er ihr einen Kringel um die Zahl im Kalender gemacht hatte, nicht wieder angefangen hätte, sollten sie wiederkommen. Es waren eine ganze Menge Tage, die Wasa zu zählen und wir zu warten hatten, bis wir wußten, ob es eine Geschwulst ist; das Warten ist schrecklich, sagte die Mutter, es gibt nichts Schrecklicheres auf der Welt als das Wartenmüssen; sie hatte den Arzt gebeten, ausnahmsweise doch reinzuschauen, um uns das Warten zu ersparen, und damit die Geschwulst nicht während des Wartens wachsen könnte, aber der Arzt hatte es nicht gemacht, weil Wasa noch zu klein war. Die Mutter war bis zu dem Tag mit dem Arzt im großen und ganzen zufrieden gewesen, aber bisher war es nur immer darum gegangen, ob sie selbst eine Geschwulst hatte, und da konnte der Arzt hineinschauen, aber jetzt ging es um ihr Kind, und sie überlegte, ob sie den Arzt lieber wechseln sollte und einen neuen Arzt suchen, der bereit wäre, in ihr Kind hineinzuschauen, weil solche Geschwulste schnell wachsen und bösartig werden können; zwar wäre es wahrscheinlich unangenehm für Wasa, wenn der Arzt hineinschaute, aber lieber eine kleine Unannehmlichkeit, sagte die Mutter, als das Wartenmüssen, bis es vielleicht zu spät ist. Es gab Brot mit Aufschnitt und Gurkenscheiben an dem Abend und eben Pfefferminztee. Wasa versuchte, sich möglichst unsichtbar zu machen, obwohl es natürlich nicht ging, weil die Mutter andauernd von ihr sprach, sie sah die ganze Zeit auf den Teller und mußte dreimal schlucken, bevor sie den Bissen zum Rutschen brachte, und mitten beim Abendbrot rollte der Vater mit einem Mal seine Serviette zusammen, obwohl er längst noch nicht fertig war mit dem Essen; er rollte seine Serviette zusammen und steckte sie in den Serviettenring, als die Mutter sagte, der Arzt hat gesagt, wir könnten fast sicher sein, daß Wasa ihre Tage noch nicht an dem Tag wieder bekommt, den er ihr auf dem Kalender angekreuzt hat, weil sie eigentlich noch zu klein wäre für die Tage, und da könnte es sein, daß die Tage unregelmäßig kommen und sogar ausbleiben und es trotzdem keine Geschwulst ist.
Der Vater war so weiß im Gesicht geworden, wie er es immer wurde, wenn er über den besten Ostwitz nicht mehr lachen konnte. Er stand vom Abendbrottisch auf und sagte so höflich, wie er es immer wurde, wenn er weiß im Gesicht war, du entschuldigst, Irene, daß ich nicht mehr an einem Tisch essen werde, an dem die Innereien meiner Tochter zum Abendessen serviert werden. Er verschwand im Schlafzimmer und kam mit der Lederjacke zurück, die er immer anzog, wenn er abends weggehen wollte, aber bevor er tatsächlich wegging, kam er noch einmal an den Tisch und schaute sich eine Weile den Tisch an. Wasa schaute sich das Teewurstbrot auf ihrem Teller an, weil sie vergessen hatte, wie man schluckt, daß beim Schlucken die Bissen auch rutschen, und ich erzählte ihr hinterher, daß ich, während der Vater auf den Tisch geschaut hatte, hätte schwören können, er überlegt, ob er die Ami-Stiefmutter jetzt sofort zücken sollte und wir vielleicht heute abend alle noch umziehen würden, aber dann sah er die Sektflasche, die auf dem Tisch stand, goß sich ein Glas Sekt ein und sagte, zum Wohlsein, und dann ging er und kam auch nicht frisch gebadet wieder nach Hause in der Nacht, sondern war am nächsten Morgen noch nicht wieder da, und bis dahin hatten wir fest an unseren Lieblingssatz geglaubt, aber beim Frühstück war ich mir nicht mehr sicher, ob der Vater wirklich blau wie eine Haubitze noch besser Auto fahren konnte als die Mutter je im Leben stocknüchtern.
Als er weggegangen war, wußten wir zuerst nicht, ob wir nach dem Abwaschen in unser Zimmer gehen sollten oder bei der Mutter bleiben. Wasa ging in unser Zimmer, damit die Mutter sie nicht die ganze Zeit ansehen mußte und sich dann solche Sorgen machte, daß sie auf die Idee käme, an die Wand oder in den Rhein zu fahren; Flori und ich blieben im Wohnzimmer, weil wir hoffentlich gesund waren und keine Tage und Geschwulste hatten und bei ihr zu Hause geblieben waren, und schließlich sagte die Mutter, daß sie heute mit einer Schlaftablette allein wohl nicht einschlafen könnte, wahrscheinlich würden heute nicht einmal zwei Schlaftabletten zum Einschlafen reichen; sie wunderte
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