Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Setzungen, Konventionen und Ursprünge, die psychologisch zu suchen und zu fundieren waren, trieb auch Nietzsche lebenslang um. Ihm gefiel Rées naturwissenschaftlich empirischer Ansatz, und auch der von ihm adaptierte aphoristische Stil erwies sich als anregend und nachahmenswert, um seine wissenschaftlichen Gefilde zugunsten eines sich freischwimmenden Literaten mit neuem Duktus und neuem Stil zu verlassen. «Menschliches, Allzumenschliches», ein Produkt dieser Jahre, wurde angeregt und begleitet von Rée, und es kam nicht von ungefähr, dass Richard Wagner den neuen Freund Nietzsches gar nicht goutierte und den Abtrünnigen sogar vor Rée warnte. Ein kleiner Blick in die neue Schrift Nietzsches, nur in Auszügen, die Wagners Metier betreffen, zeigt, dass der Maestro im eigenen Interesse recht daran tat. Die Kunst ist ein Scheinleben wie über Gräbern. Eine Totenbeschwörerin. Um den Wahrheitssinn des Künstlers ist es nicht gut bestellt – will er sich doch die glänzenden, tiefsinnigen Deutungen des Lebens durchaus nicht nehmen lassen, weshalb er sich regelrecht gegen das Erkennen von Wahrheiten wehrt, Träume von Unsterblichkeit im Herzen und in Trauer um die verlorene Geliebte, sei es nun die Religion oder die Metaphysik. «Der Künstler kommt immer mehr in eine Verehrung der plötzlichen Erregungen, glaubt an Götter und Dämonen, durchseelt die Natur, haßt die Wissenschaft, wird wechselnd in seinen Stimmungen wie die Menschen des Altertums und begehrt einen Umsturz aller Verhältnisse, welche der Kunst nicht günstig sind, und zwar dies mit der Heftigkeit und Unbilligkeit eines Kindes. An sich ist nun der Künstler schon ein zurückbleibendes Wesen, weil er beim Spiel stehenbleibt, welches zur Kindheit und Jugend gehört.» Der Künstler der Moderne, der exemplarische Künstler, der Künstler schlechthin ist und bleibt indes Richard Wagner. So ist auch er nur ein Totengräber mit pompösen Mitteln und gefährlicher Suggestivkraft? Der Begriff: «Abendröte der Kunst» fällt im letzten Aphorismus von Teil IV dieser Textsammlung «Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller», und dieser lautet: «Wie man sich im Alter der Jugend erinnert und Gedächtnisfeste feiert, so steht bald die Menschheit zur Kunst im Verhältnis einer rühren den Erinnerung an die Freuden der Jugend. Vielleicht daß niemals früher die Kunst so tief und seelenvoll erfaßt wurde wie jetzt, wo die Magie des Todes dieselbe zu umspielen scheint. Man denke an jene griechische Stadt in Unteritalien, welche an einem Tage des Jahres noch ihre griechischen Feste feierte, unter Wehmut und Tränen darüber, daß immer mehr die ausländische Barbarei über ihre mitgebrachten Sitten triumphiere; niemals hat man wohl das Hellenische so genossen, nirgendswo diesen goldenen Nektar mit solcher Wollust geschlürft als unter diesen absterbenden Hellenen. Den Künstler wird man bald als ein herrliches Überbleibsel ansehen und ihm, wie einem wunderbaren Fremden, an dessen Kraft und Schönheit das Glück früherer Zeiten hing, Ehren erweisen, wie wir sie nicht leicht Unsersgleichen gönnen. Das beste an uns ist vielleicht aus Empfindungen früherer Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt auf unmittelbarem Wege kaum mehr kommen können; die Sonne ist schon hinuntergegangen, aber der Himmel unseres Lebens glüht und leuchtet noch von ihr her, ob wir sie schon nicht mehr sehen.» Kein Weg ging offensichtlich an dieser Wahrheit, die der sich neu erfindende Nietzsche erkannte, vorbei: Wagners Zukunftskunst war ein Schwanengesang …
Aber der Gegensatz zu Wagner und zur Romantik, zum Mythos und zum Idealismus war nicht der Positivismus des 19. Jahrhunderts, wie er als Anti-Haltung jetzt nahelag, sondern wieder die Griechen, auf die Nietzsche immer zurückkommen wird. Hier fand sich das, was zum «Artisten-Optimismus» Zarathustras zu führen bestimmt war, aufgehoben in der Erkenntnis der ewigen Wiederkehr: das Gesetz des Werdens als Spiel in der Notwendigkeit, eine Welt, die keinen Stillstand erleidet, unschuldige Werdelust, die man bejahen sollte, eine außermoralische Deutung der Welt. Demokrit, der Begründer des Atomismus, lehrte, dass alles Sein aus unendlich vielen und unendlich kleinen, nicht mehr teilbaren Atomen bestehe, die sich im leeren Raum mechanisch vereinen und wieder trennen. Auch das menschliche Seelenleben ist nach Demokrits Lehre nichts anderes als die Mechanik feinster Atome, woraus sich unsere Wahrnehmung und unser Denken ergebe. Als
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