Friesengold (German Edition)
ostfriesischen Zentrum der Tourismusindustrie. Das war eine Frage der Perspektive. Die verantwortlichen Kommunalpolitiker im fernen Pewsum, der Hauptstadt der Krummhörn, hatten Greetsiel schon vor Jahren zum Abschuss freigegeben. Unmittelbar am Hafen konnten so dänische Fassaden mehrstöckig in den friesischen Himmel wachsen, während im Westen des Dorfes das Tief um kleine Grachten erweitert worden war, an denen Ferienhäuser mit pseudofriesischen Fassaden auf Freizeitkapitäne warteten.
Der Clou der totalen Vermarktung und Preisgabe jeglicher Authentizität aber war der Plan, den Gesamtumsatz des einstigen Fischer- und Bauerndorfes faktisch zu verdoppeln, indem man es einfach klonte. Einen guten Kilometer vom Original entfernt sollte im kommenden Jahr auf der grünen Wiese das 8,3 Hektar große Greetland entstehen. Mit seinen 1183 Betten könnte die Anlage sämtliche Einwohner der Nachbardörfer Eilsum und Pilsum gemeinsam beherbergen. Ein Investor war auf die verblüffende Idee gekommen und hatte gleich 138 Ferienhäuser geplant, aber auch eine Hotelanlage mit 220 Betten und weitere Gebäudekomplexe, darunter auch eine Art Wasserburg. Die Architekten hatten sich dabei am Erscheinungsbild der Hamburger Speicherstadt orientiert, da sie, so vermutete Greven, noch nie in der Krummhörn gewesen waren. Auch sonst hatten sie ihrer Fantasie freien Lauf gelassen und eine Art ostfriesisches Disneyland entworfen. Kombinierte man beide Namen, ergaben sich die Möglichkeiten Disneysiel und Greetland, wobei sich Investor und Kommunalpolitik für Letzteres entschieden hatten, obwohl Greven Disneysiel für ehrlicher und treffender hielt. Andererseits hätte es bestimmt ein Problem gegeben, die Namensrechte vom amerikanischen Medienkonzern zu erwerben.
Noch war das Klonen in vollem Gange und nicht abzusehen, ob dem Plan auch Erfolg beschieden war. Fest stand nur, dass diesmal Simon Grönmann seine Finger nicht im Spiel hatte. Das war kein Trost, aber Greven stellte sich dennoch das volle Gesicht des Zweiundsechzigjährigen vor, als er aus der Zeitung von Disneysiel erfahren hatte. Und mit Sicherheit hatte er versucht, sich doch noch eine Scheibe von dem großen Kuchen abzuschneiden.
Grevens Gedanken kehrten gerade wieder vollends zu Simon Grönmann zurück, als sich unvermittelt der Vorhang auftat. Innerhalb weniger Sekunden war das undurchdringliche Weiß verschwunden und gab die Sicht wieder frei. Abgesehen von den weißen Schlieren auf der Scheibe, die er mit einer Handvoll Schnee beseitigte. Noch wirbelten dicke Flocken durch die Dezemberluft, aber die vertrauten Gulfhöfe und Schlafdeiche, die die Straße nach Leybuchtpolder säumten, waren wieder zu erkennen. Der Adrenalinstau hatte sich ebenfalls aufgelöst, so dass er mit einer akzeptablen Laune die Fahrt fortsetzen konnte. Angesichts der Schneemengen auf der Straße kam allerdings nur das Tempo »Langsame Fahrt voraus« in Frage.
Greetsiel wirkte wie ausgestorben. Nur ab und zu war ein Vermummter zu sehen, der mit Besen oder Schneeschieber gegen den mittlerweile ungewohnten Winter kämpfte. Grönmann bewohnte ein altes und stattliches Bürgerhaus am Sieltief. Hohe weiße Sprossenfenster, eine grüne Holztür mit einem dekorativen Messingstern, eine dreistufige Eingangstreppe. Ein schönes, ein gepflegtes, ein repräsentatives, aber für Greetsieler Verhältnisse auch ein abgelegenes Haus, denn der Zufahrtsweg war eine Sackgasse.
Punkt zehn. Greven klopfte sich den Schnee von den Schuhen und klingelte. Nur Sekunden später wurde die Tür von einem Mann mit einem massigen Körper geöffnet. Dass Haar war kurz und nach hinten gekämmt, die Augen groß und dunkel. Unter dem kantigen Kopf kam in Form einer Hautfalte ein Doppelkinn zum Vorschein. Die rechte Hand hielt eine Zigarre, deren teurer Duft Greven sofort in die Nase stieg. Der Rest des dicken Mannes war schwarz, als habe er sich mit Annalinde von Reeten abgesprochen. Eine auffällige goldene Uhrkette war der einzige Farbtupfer.
»Moin, Gerd, lange nicht mehr gesehen«, begrüßte ihn Grönmann und lächelte ihn dabei freundlich an. »Wie lang ist das jetzt her? Acht oder neun Jahre? Ich glaube, das war bei deinem ersten Fall. Harm Claasen. Stimmt’s? Armer Kerl. Was wohl aus ihm geworden wäre, wenn er tatsächlich diese versunkene Stadt gefunden hätte, dieses Gordum? Aber bitte, komm doch erst einmal rein!«
Greven folgte dem dicken Mann in ein kleines, aber luxuriös ausgestattetes Wohnzimmer. Sein
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